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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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diesen oder jenen. Diese Unterscheidungen können weit führen, das dürfen Sie mir glauben. Doch bin ich wirklich müde und habe keine Lust mehr, an diese Zeit zurückzudenken. Ich will bloß hinzufügen, dass ich an dem Tag das Tüpfelchen aufs i setzte, da ich das Wasser eines sterbenden Kameraden trank. Nein, nein, nicht Löwenherz; er war, wenn ich mich recht besinne, bereits tot, er hatte zu sehr gedarbt. Und zudem hätte ich, wäre er noch da gewesen, ihm zuliebe länger widerstanden, denn ich liebte ihn, ja, ich liebte ihn, wenigstens will mir das so scheinen. Aber das Wasser habe ich getrunken, daran besteht kein Zweifel, und mir dabei eingeredet, die anderen hätten mich nötiger als diesen auf jeden Fall dem Tod geweihten Kameraden, und ich müsse mich ihretwegen am Leben erhalten. Auf diese Weise, mein Lieber, entstehen die großen Reiche und die Religionen: unter der Sonne des Todes. Und um meine gestrigen Reden etwas zu berichtigen, will ich Ihnen verraten, auf welch großartige Idee mich das Gespräch über all die Dinge gebracht hat, obwohl ich nicht einmal mehr weiß, ob ich sie erlebt oder geträumt habe. Meine großartige Idee aber ist die folgende: Man muss dem Papst vergeben. Denn erstens hat er es nötiger als alle anderen, und zweitens ist es die einzige Möglichkeit, über ihm zu stehen.
    Oh, die Tür! Haben Sie sie auch richtig geschlossen? Wirklich? Schauen Sie doch bitte nach. Verzeihen Sie, ich habe einen Riegelkomplex. Im Augenblick des Einschlafens kann ich mich nie erinnern, ob ich den Riegel vorgeschoben habe. Jeden Abend muss ich nochmals aufstehen, um nachzusehen. Ich habe es Ihnen schon gesagt, es gibt keine Gewissheit. Glauben Sie indessen nicht, diese Riegelangst sei ein Zittern um Besitz. Früher schloss ich weder meine Wohnung noch meinen Wagen je ab. Ich klammerte mich nicht an mein Geld, ich hing nicht an meiner Habe. Im Grunde genommen schämte ich mich ihrer ein bisschen. Kam es doch vor, dass ich im Schwung meiner in Gesellschaft gehaltenen Reden voll innerer Überzeugung ausrief: «Besitz, meine Herren, ist Mord!» Da ich nicht großherzig genug war, meine Schätze mit einem verdienstvollen Armen zu teilen, stellte ich sie zur Verfügung etwaiger Diebe und hoffte, auf diese Art die Ungerechtigkeit durch den Zufall wettzumachen. Heute besitze ich nebenbei bemerkt nichts mehr. Ich bin daher nicht für meine Sicherheit besorgt, sondern für mich selbst und meine geistige Frische. Außerdem lege ich Wert darauf, sorgsam den Zugang zu dem kleinen, in sich selbst geschlossenen Reich zu versperren, in dem ich König, Papst und Richter bin.
    Da wir schon davon sprechen – öffnen Sie doch bitte jenen Wandschrank. Ja, schauen Sie das Bild ruhig an. Erkennen Sie es nicht? Es sind Die unbestechlichen Richter. Das lässt Sie kalt? Sollte Ihre Bildung Lücken aufweisen? Wenn Sie die Zeitung läsen, müssten Sie sich an den 1943 in Gent begangenen Diebstahl erinnern, als aus der Kathedrale St. Bavo eine Tafel des Agnus Dei , des berühmten Altarbildes von van Eyck, entwendet wurde. Diese Tafel hieß Die unbestechlichen Richter und stellte Richter dar, die sich zu Pferd aufgemacht haben, um das heilige Tier anzubeten. Man hat sie durch eine ausgezeichnete Kopie ersetzt, denn das Original blieb unauffindbar. Nun, hier ist es. Nein, ich war nicht daran beteiligt. Ein Stammgast vom Mexico-City – Sie haben ihn übrigens neulich gesehen – hat es eines Abends im Rausch um eine Flasche Fusel dem Gorilla verkauft. Zuerst habe ich unserem Freund geraten, es gut sichtbar aufzuhängen, und während man unsere frommen Richter auf der ganzen Welt suchte, thronten sie lange Zeit im Mexico-City über Trunkenbolden und Zuhältern. Später hat der Gorilla es mir auf meine Bitte hin in Verwahrung gegeben. Er sträubte sich zuerst ein wenig, aber als ich ihm den Sachverhalt erklärte, bekam er es mit der Angst zu tun. Seither bilden diese ehrenwerten Amtspersonen meine einzige Gesellschaft. Sie haben gesehen, was für eine Lücke sie in der Kneipe über der Theke hinterlassen haben.
    Warum ich das Bild nicht zurückerstattet habe? Schau, schau, Sie entwickeln ja Polizeiinstinkte! Nun, ich will Ihnen sagen, was ich dem Untersuchungsrichter antworten würde, wenn bloß endlich einer auf den Gedanken verfiele, das Bild könnte in meinem Zimmer gelandet sein. Erstens, würde ich sagen, weil es nicht mir gehört, sondern dem Wirt im Mexico-City , der es mindestens so sehr verdient wie der Erzbischof von
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