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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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allzu oft einen hässlichen Ausschlag verbergen. Aber ich sage mir zum Trost, dass die Leute mit Zungenschlag letzten Endes ebenfalls nicht rein sind. Ja gerne, lassen wir uns noch einen Wacholder kommen.
    Gedenken Sie längere Zeit hierzubleiben? Eine schöne Stadt, dieses Amsterdam, nicht wahr? Faszinierend, sagen Sie? Ein Wort, das ich lange nicht mehr gehört habe. Genau gesagt, seitdem ich aus Paris fort bin, also seit Jahren. Aber das Herz besitzt bekanntlich sein eigenes Gedächtnis, und ich erinnere mich unserer schönen Hauptstadt und ihrer Quais noch in allen Einzelheiten. Paris ist eine wahre Fata Morgana, eine großartige Kulisse, die vier Millionen Schatten beherbergt. So? Nach der letzten Volkszählung sind es nahezu fünf Millionen? Na, dann haben sie eben Junge gekriegt. Das wundert mich übrigens nicht. Es wollte mir schon immer scheinen, unsere Mitbürger frönten zwei Leidenschaften: den Ideen und der Hurerei. Kunterbunt durcheinander, möchte man sagen. Hüten wir uns übrigens, sie zu verurteilen; sie stehen keineswegs einzig da, in ganz Europa ist man heute so weit. Manchmal suche ich mir vorzustellen, was wohl die künftigen Geschichtsschreiber von uns sagen werden. Ein einziger Satz wird ihnen zur Beschreibung des modernen Menschen genügen: Er hurte und las Zeitungen. Mit welcher bündigen Definition der Gegenstand, wenn ich so sagen darf, erschöpft wäre.
    Die Holländer? O nein, die sind bei weitem nicht so modern! Sie lassen sich Zeit, wie ein Blick Sie belehren wird. Was sie tun? Nun, diese Herren hier leben von der Arbeit jener Damen dort. Sie sind übrigens allesamt, Männlein und Weiblein, recht bürgerliche Kreaturen, die, wie so oft in solchen Fällen, aus Mythomanie oder aus Dummheit hier gelandet sind. Mit einem Wort, aus einem Zuviel oder Zuwenig an Phantasie. Ab und zu lassen die Herren ihr Messer oder ihren Revolver spielen, aber glauben Sie ja nicht, dass sie besonders darauf erpicht wären. Das gehört einfach zu ihrer Rolle; doch fällt ihnen das Herz in die Hosen, wenn sie ihre letzten Patronen verschießen. Was nicht hindert, dass ich sie moralischer finde als jene anderen, die im Familienkreis durch allmähliche Abnutzung töten. Ist ihnen nicht aufgefallen, dass unsere ganze Gesellschaftsordnung sich auf diese Art des Liquidierens eingestellt hat? Sie haben bestimmt schon von jenen winzig kleinen Fischen in den Flüssen Brasiliens gehört, die zu Tausenden über den unvorsichtigen Schwimmer herfallen und ihn mir nichts, dir nichts sauberbeißen, sodass nichts übrig bleibt als sein blankes Gerippe. Sehen Sie, genauso verhält es sich mit ihrer Organisation. «Du willst ein sauberes Leben? Wie jeder andere auch?» Selbstverständlich sagt man ja. Wie denn auch nicht! «Schön, du sollst gesäubert werden. Da hast du deinen Beruf, deine Familie, deine organisierte Freizeit.» Und die scharfen Zähnchen machen sich über das Fleisch her und beißen sich bis zu den Knochen durch. Aber ich bin ungerecht. Nicht ihre Organisation hätte ich sagen sollen. Letzten Endes ist es ja die unsere. Die Frage ist nur, wer wen säubert.
    So, da kommt auch endlich unser Wacholder. Auf Ihr Wohlergehen! Ja, Sie haben richtig gehört, der Gorilla hat den Mund aufgetan und mich Herr Doktor genannt. In diesen Breiten ist jedermann ein Herr Doktor oder ein Herr Professor. Man ist hier gern respektvoll, aus Gutherzigkeit, auch aus Bescheidenheit. Hier wenigstens hat man die Bosheit noch nicht zur Landesinstitution erhoben. Im Übrigen bin ich nicht etwa Arzt. Wenn Sie es durchaus zu erfahren wünschen: Ehe ich hierher kam, war ich Rechtsanwalt. Jetzt bin ich Buß-Richter.
    Aber gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Johannes Clamans, ergebenster Diener. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Sie stehen wohl im Geschäftsleben? So ungefähr? Ausgezeichnete Antwort! Und wie richtig! Sind wir doch alles nur so ungefähr. Sie erlauben, dass ich ein wenig Detektiv spiele? Sie sind so ungefähr in meinem Alter, Ihr Auge verrät die Erfahrung des Vierzigjährigen, der so ungefähr in allem Bescheid weiß, Sie sind so ungefähr gut angezogen, das heißt so, wie man bei uns eben angezogen ist, und Sie haben gepflegte Hände. Also ein Bürger, so ungefähr! Aber ein verfeinerter Bürger! Dass Sie bei etwas umständlichen Formulierungen die Brauen zusammenziehen, ist in der Tat ein doppelter Beweis Ihrer Bildung: einmal, weil sie Ihnen auffallen, und zum anderen, weil sie Ihnen auf die Nerven gehen. Und
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