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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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erwarte ich sie.
    Also bis morgen, Monsieur. Nein, jetzt können Sie den Weg nicht mehr verfehlen. Ich verabschiede mich bei dieser Brücke. Ich gehe nachts nie über eine Brücke. Ein Gelübde. Stellen Sie sich doch einmal vor, es stürze sich einer ins Wasser. Dann stehen Ihnen zwei Möglichkeiten offen: Entweder Sie springen nach, um ihn herauszufischen, was in der kalten Jahreszeit die denkbar schlimmsten Folgen für Sie haben kann! Oder aber Sie überlassen ihn seinem Schicksal, doch nach unterbliebenen Kopfsprüngen fühlt man sich manchmal seltsam zerschlagen. Gute Nacht! Wie bitte? Die Damen hinter jenen großen Scheiben? Der Traum, Monsieur, der wohlfeile Traum, die Reise nach Indien! Diese Wesen parfümieren sich mit Spezereien. Man tritt ein, die Vorhänge werden zugezogen, die Fahrt beginnt. Die Götter steigen auf die nackten Leiber herab, und die Inseln treiben dahin, wahnergriffen, vom zersausten Haar windgeschüttelter Palmen gekrönt. Versuchen Sie es.

 
     
    Was ein Buß-Richter sei? Aha, dieser Ausdruck hat offenbar Ihre Neugier gereizt. Es war eine ganz arglose Bemerkung, glauben Sie mir, und ich bin gerne bereit, mich deutlicher zu erklären. In gewissem Sinn gehört das sogar zu meinem Amt. Zunächst muss ich Ihnen jedoch eine Reihe von Umständen darlegen, die Ihnen zum besseren Verständnis meines Berichts dienlich sein werden.
    Bis vor ein paar Jahren war ich Rechtsanwalt in Paris, man kann wohl sagen ein ziemlich bekannter Rechtsanwalt. Ich habe Ihnen selbstverständlich nicht meinen richtigen Namen genannt. Ich hatte mich darauf spezialisiert, die noblen Sachen zu vertreten, Witwen und Waisen zu verteidigen, wie man zu sagen pflegt, obwohl mir diese Redensart nicht recht einleuchtet, denn schließlich gibt es ja auch Witwen, die Missbrauch treiben, und Waisen, die wahre Raubtiere sind. Indessen genügte es, dass ein Angeklagter im Geringsten von Opferhauch umwittert war, um die Ärmel meiner Robe in Bewegung zu setzen. Und was für eine Bewegung! Der reinste Sturm! Ich trug das Herz auf den Ärmeln. Man hätte wirklich glauben können, Justitia lege sich jeden Abend zu mir ins Bett. Ich bin gewiss, dass auch Sie die Richtigkeit meines Tons, die genaue Dosierung meiner Gemütsbewegungen, die Überzeugungskraft und die Wärme, die beherrschte Empörung meiner Plädoyers bewundert hätten. Was mein Äußeres betrifft, so hat die Natur mich gut ausgestattet: die edle Haltung kostet mich keine Mühe. Zudem leisteten zwei aufrichtige Gefühle mir große Dienste: die Genugtuung, mich auf der richtigen Seite der Schranke zu befinden, und eine instinktive Verachtung der Richter im Allgemeinen. Na, am Ende war diese Verachtung vielleicht nicht ganz so instinktiv. Ich weiß jetzt, dass sie ihre Gründe hatte. Aber nach außen hin hatte sie etwas von echter Leidenschaft. Es ist unbestreitbar, dass wenigstens vorläufig Richter vonnöten sind, nicht wahr? Und doch konnte ich nicht begreifen, dass ein Mensch sich freiwillig zu diesem merkwürdigen Amt hergab. Ich nahm die Tatsache hin, da ich sie ja schließlich vor Augen hatte, aber etwa so, wie ich die Existenz der Heuschrecken hinnahm. Mit dem Unterschied allerdings, dass die Einfälle dieser Schädlinge mir nie einen Pfennig eingetragen haben, während der Dialog mit Leuten, die ich verachtete, mir mein gutes Auskommen sicherte.
    Aber eben, ich befand mich auf der richtigen Seite, das genügte für meinen Seelenfrieden. Das Bewusstsein des guten Rechts, der Genugtuung, recht zu haben, das Hochgefühl der Selbstachtung – das, Verehrtester, sind Triebfedern, mächtig genug, uns Haltung zu geben oder vorwärtszubringen. Berauben Sie die Menschen dagegen dieses Antriebs, und Sie verwandeln sie in wutschäumende Hunde. Wie manches Verbrechen wird doch begangen, bloß weil sein Urheber es nicht ertragen konnte, im Unrecht zu sein! Ich habe einen Industriellen gekannt, der eine von allen bewunderte, in jeder Beziehung vollkommene Frau besaß und sie dennoch betrog. Dieser Mann wurde buchstäblich rasend, weil er sich im Unrecht befand und keine Möglichkeit sah, sich ein Zeugnis der Tugendhaftigkeit auszustellen oder ausstellen zu lassen. Je größere Vollkommenheit die Frau an den Tag legte, desto rasender wurde er. Bis er schließlich sein Unrecht nicht länger ertrug. Was glauben Sie, dass er tat? Er hörte auf, sie zu betrügen? Keineswegs. Er brachte sie um. Auf diese Weise machte ich seine Bekanntschaft.
    Meine Lage war da beneidenswerter. Nicht
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