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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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Wesentlich ist, nicht mehr frei zu sein und reumütig einem größeren Spitzbuben zu gehorchen, als man selber ist. Wenn wir alle schuldig sind, dann beginnt die Demokratie. Zudem, lieber Freund, ist es angezeigt, sich dafür zu rächen, dass man allein sterben muss. Der Tod ist einsam, während die Knechtschaft gemeinsam ist. Die anderen haben auch ihr Fett weg, und zwar gleichzeitig mit uns, darauf kommt es an. Endlich sind wir alle vereint, aber auf den Knien und gesenkten Hauptes.
    Ist es etwa nicht empfehlenswert, sein Leben in Angleichung an die Gesellschaft einzurichten, und ist es zu diesem Zweck nicht vonnöten, dass die Gesellschaft mir gleicht? Einschüchterung, Entehrung und Polizei sind die Sakramente dieser Ähnlichkeit. Dann aber, verachtet, gehetzt und unterdrückt, kann ich zeigen, was ich vermag, mein Sein genießen, mich endlich ungekünstelt geben. Nachdem ich der Freiheit feierlich die Ehre erwiesen hatte, beschloss ich daher bei mir selber, sie sei ungesäumt in andere Hände zu legen, ganz gleich in welche. Und sooft sich Gelegenheit dazu bietet, predige ich in meiner Kirche, dem Mexico-City , und fordere das Volk auf, sich zu unterwerfen und demütig nach den Tröstungen der Knechtschaft zu trachten, selbst wenn sie dafür als die wahre Freiheit hingestellt werden muss.
    Aber ich bin kein Narr; ich sehe durchaus ein, dass die Sklaverei nicht so bald verwirklicht werden kann. Die Zukunft zwar wird diese Wohltat bringen; wir aber leben in der Gegenwart, und so muss ich mich danach einrichten und zumindest eine provisorische Lösung suchen. So galt es denn, ein anderes Mittel zu finden, das mir erlaubte, das Urteil auf alle Menschen auszudehnen, um es auf meinen eigenen Schultern weniger schwer lasten zu spüren. Dieses Mittel habe ich gefunden. Öffnen Sie doch bitte das Fenster ein wenig, es herrscht eine unerträgliche Hitze in diesem Zimmer. Nicht zu weit, denn gleichzeitig friert mich auch! Meine Idee ist sowohl einfach als auch reich an Möglichkeiten. Wie bringt man es fertig, alle Leute unter die gleiche Dusche zu stellen, um das Recht zu haben, sich selber an der Sonne zu trocknen? Sollte ich mich wie so viele meiner illustren Zeitgenossen auf eine Kanzel hissen und der Menschheit fluchen? Ein höchst gefährliches Unterfangen! Eines Tages oder eines Nachts platzt aus heiterem Himmel das Lachen los. Der Urteilsspruch, den man über die anderen verhängt, fliegt einem zuletzt wie ein Bumerang geradewegs ins eigene Gesicht und richtet dort allerlei Verheerungen an. Was dann, fragen Sie? Nun, da eben kommt der Geniestreich. Ich habe entdeckt, dass wir in Erwartung der Meister und ihrer Züchtigungen den Gedankengang nach Kopernikus’ Beispiel umkehren mussten, um den Sieg davonzutragen. Da es unmöglich war, die anderen zu verurteilen, ohne sich selbst allsogleich mitzurichten, musste man sich selbst mit Anklagen überhäufen, um das Recht zu erlangen, die anderen zu richten. Da jeder Richter eines Tages zum Büßer wird, musste man einfach den umgekehrten Weg einschlagen und den Beruf des Büßers ergreifen, um eines Tages zum Richter werden zu können. Leuchtet Ihnen das ein? Schön. Um mich jedoch ganz deutlich zu erklären, will ich Ihnen verraten, wie ich vorgehe.
    Als Erstes schloss ich meine Anwaltspraxis und ging auf Reisen. Ich suchte mich unter einem angenommenen Namen in irgendeiner Stadt niederzulassen, wo ich mit einer zahlreichen Kundschaft rechnen durfte. Es gibt deren viele auf der Welt, aber Zufall, Bequemlichkeit, Ironie und auch die Notwendigkeit einer gewissen Demütigung ließen mich eine von Wasser und Nebeln geprägte, von Kanälen umschnürte, von Menschen aus aller Herren Ländern wimmelnde Großstadt wählen. Ich habe meine Praxis in einer Kneipe des Matrosenviertels eingerichtet. Die Kundschaft der Häfen ist gar mannigfaltig. Die Armen begeben sich nie in die vornehmen Stadtviertel, während die Hochwohlgeborenen ausnahmslos früher oder später einmal, wie Sie selbst haben feststellen können, in den verrufenen Gassen landen. Ganz besonders halte ich Ausschau nach dem Bürger, und zwar dem Bürger auf Abwegen; bei ihm erziele ich die befriedigendsten Resultate. Meisterhaft entlocke ich ihm die raffiniertesten Töne.
    So übe ich denn seit einiger Zeit im Mexico-City meinen nützlichen Beruf aus. Wie Sie aus eigener Erfahrung wissen, besteht er in erster Linie darin, sooft es nur angeht, der öffentlichen Beichte obzuliegen. Ich klage mich also an, und zwar
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