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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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allein, um vor sich selber oder dem Urteil der anderen seine Entscheidung zu treffen. Am Ende jeder Freiheit steht ein Urteilsspruch: Darum ist die Freiheit zu schwer zu ertragen, besonders wenn man Fieber oder Kummer oder niemand lieb hat.
    Ach, mein Lieber, für den Einsamen, der keinen Gott und keinen Meister kennt, ist die Last der Tage fürchterlich. Man muss sich daher einen Meister suchen, denn Gott ist nicht mehr Mode. Das Wort Gott hat übrigens seinen Sinn verloren und ist nicht wert, dass man seinetwegen die Gefahr auf sich nimmt, irgendwo Anstoß zu erregen. Schauen Sie bloß unsere Moralisten an. Sie sind voll sittlichen Ernstes und Nächstenliebe und was sonst so dazugehört, und so trennt sie eigentlich nichts von den Christen, außer vielleicht der Umstand, dass sie nicht in den Kirchen predigen. Was hindert sie Ihrer Meinung nach daran, sich zu bekehren? Die Rücksicht vielleicht, die Rücksicht auf die Menschen? Ja, das ist es, die Rücksicht auf die Meinung der Welt. Sie wollen kein Ärgernis erregen und behalten darum ihre Gefühle für sich. So habe ich zum Beispiel einen atheistischen Romancier gekannt, der jeden Abend sein Gebet sprach. Das hinderte ihn keineswegs, in seinen Büchern aus Leibeskräften über Gott herzuziehen. Ein Verriss erster Klasse, wie man zu sagen pflegt! Ein streitbarer Freidenker, dem ich dies erzählte, hob – übrigens ohne böse Absicht – die Hände gen Himmel und seufzte: «Das ist mir leider nicht neu, sie sind sich alle gleich.» Wenn man diesem Apostel Glauben schenken darf, so würden achtzig Prozent unserer Schriftsteller den Namen Gottes schreiben und preisen, wenn sie ihre Bücher bloß anonym veröffentlichen könnten. Aber nach Ansicht dieses Mannes veröffentlichen sie nicht anonym, weil sie sich lieben, und preisen überhaupt nichts, weil sie sich verabscheuen. Da sie trotz allem nicht umhinkönnen zu richten, halten sie sich an der Moral schadlos. Kurz gesagt, ihre Gottlosigkeit ist auf Tugend eingefärbt. Wir leben wahrlich in einer kuriosen Zeit! Was Wunder, dass die Geister verwirrt sind und einer meiner Freunde, der nicht an Gott glaubte, solange er ein untadeliger Ehegatte war, sich bekehrte, als er die Ehe brach!
    Ha, die kleinen Duckmäuser, Komödianten und Heuchler, die zu allem Überfluss so etwas Rührendes haben! Glauben Sie mir, sie gehören allesamt dazu, selbst wenn sie den Himmel in Brand stecken. Ob sie nun Atheisten oder Frömmler sind, Materialisten in Moskau, Puritaner in Boston, alle sind sie Christen, vom Vater auf den Sohn. Aber eben, es gibt ja keinen Vater, kein Gebot mehr! Man ist frei und muss schauen, wie man sich aus der Affäre zieht; und weil sie vor allem nichts von der Freiheit und ihren Urteilssprüchen wissen wollen, beten sie, man möge ihnen auf die Finger klopfen, sie erfinden schreckliche Regeln und errichten eilends Scheiterhaufen, um die Kirche zu ersetzen. Lauter Savonarolas, sage ich Ihnen! Aber sie glauben immer nur an die Sünde, nie an die Gnade. Nicht etwa, dass sie nicht daran dächten! Denn Gnade möchten sie ja eben, ein Ja, die Hingabe, das Daseinsglück und, da sie auch sentimental sind, vielleicht das Verlöbnis, das unberührte junge Mädchen, den aufrechten Mann, die Musik. Soll ich Ihnen verraten, wovon ich zum Beispiel, der ich nicht sentimental bin, geträumt habe? Von einer vollkommenen, Leib und Seele erfüllenden Liebe, die in nicht aufhörender Umarmung schwelgt und sich in immer höhere Wonnen steigert, Tag und Nacht, fünf Jahre lang – und dann der Tod! Nun ja …
    Und in Ermangelung von Verlöbnis oder immerwährender Liebe hält man sich dann eben an die Ehe in ihrer ganzen Rohheit, mit Herrschergewalt und Peitsche. Hauptsache ist, dass alles einfach wird wie für die Kinder, dass jede Handlung befohlen wird, dass Gut und Böse auf willkürliche, das heißt also augenfällige Art gekennzeichnet sind. Und ich meinerseits, so sizilianisch und javanisch ich mich auch gebärde, bin ganz damit einverstanden; dabei bin ich alles andere als ein Christ, obwohl ich für den ersten unter ihnen Freundschaft empfinde. Aber auf den Brücken von Paris habe ich erfahren müssen, dass auch ich mich vor der Freiheit fürchtete. Hoch lebe also der Meister, wer immer er sei, wenn er nur das Gesetz des Himmels ersetzt. «Unser Vater, der du vorläufig auf Erden bist … Unsere herzerquickend strengen Führer und Befehlshaber, o grausame und vielgeliebte Gebieter …» Sie begreifen, was ich meine:
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