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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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abgeholt wurde, erwies sich die Wohnungstür als zu schmal. «Mein Liebling», sagte mit entzückter und tiefbekümmerter Überraschung die Concierge in ihrem Bett, «wie groß er doch war!» – «Nur keine Aufregung, Madame», antwortete der Beamte, «wir werden ihn auf die Kante legen und dann hochstellen.» Man hat ihn also hochgestellt und dann flach gelegt, und ich war der Einzige – außer dem ehemaligen Boy eines Nachtlokals, der offenbar jeden Abend in Gesellschaft des Verstorbenen seinen Pernod getrunken hatte –, der bis zum Friedhof mitging und ein paar Blumen auf den erstaunlich prunkvollen Sarg warf. Anschließend stattete ich der Concierge einen Besuch ab, um ihren theatralischen Dank entgegenzunehmen. Warum das alles, ich bitte Sie? Ich weiß es nicht – es sei denn der Aperitif …
    Auch einen alten Angestellten der Anwaltskammer habe ich zur letzten Ruhe geleitet, einen ziemlich verachteten Schreiber, dem die Hand zu drücken ich nie versäumt hatte. Wo immer ich arbeitete, gab ich übrigens stets jedermann die Hand, und zwar lieber zwei- als einmal. Diese herzliche Schlichtheit trug mir auf wohlfeile Art die zu meinem Hochgefühl nötige allgemeine Sympathie ein. Der Vorsitzende der Kammer hatte sich nicht zum Leichenbegängnis unseres Schreibers bemüht. Ich hingegen ja, obwohl ich mitten in Reisevorbereitungen stand, was hervorzuheben nicht verfehlt wurde. Aber eben, ich wusste, dass meine Anwesenheit beachtet und günstig vermerkt werden würde. Mithin, das werden Sie einsehen, konnte selbst der Schnee, der an jenem Tage fiel, mich nicht schrecken.
    Wie bitte? Gleich, gleich, ich verspreche es Ihnen, eigentlich bin ich ja schon dabei. Aber lassen Sie mich zuerst noch erzählen, dass meine Concierge, die, um ihre Rührung bis zur Neige auszukosten, ihr letztes Geld für Kruzifix, teures Eichenholz und Silbergriffe hergegeben hatte, sich einen Monat später mit einem stimmbegabten Stutzer zusammentat. Er verprügelte sie oft, man hörte entsetzliches Geschrei, und gleich darauf pflegte er das Fenster zu öffnen und sein Lieblingslied zu schmettern: «Gern hab ich die Fraun geküsst!» – «Unglaublich!», sagten die Nachbarn. Was ist da schon Unglaubliches dabei, wenn ich fragen darf? Meinetwegen, der Schein sprach gegen diesen Bariton und gegen die Concierge ebenfalls. Aber nichts beweist, dass sie sich nicht liebten. Genauso wenig ist bewiesen, dass sie ihren Mann nicht geliebt hatte. Als der Stutzer mit ermatteter Stimme und erlahmtem Arm das Weite suchte, fing das treue Weib übrigens wieder an, das Loblied des Verblichenen zu singen! Schließlich und endlich gibt es viele, die den Schein für sich haben und darum weder beständiger noch aufrichtiger sind. So kannte ich einen Mann, der zwanzig Jahre seines Lebens an ein albernes Ding vertan, ihr alles geopfert hatte, seine Freunde, seine Arbeit, ja die Würde seines Lebens, und der eines Abends gestand, dass er sie nie geliebt hatte. Er langweilte sich, das war das ganze Geheimnis, er langweilte sich, wie die meisten Leute sich langweilen. Und so hatte er sich von A bis Z ein an Verwicklungen und Tragödien reiches Leben geschaffen. Es muss etwas geschehen – das ist die Erklärung für die meisten menschlichen Bindungen. Es muss etwas geschehen, und wäre dieses Ereignis die Hörigkeit ohne Liebe, der Krieg oder der Tod. Darum wollen wir die Beerdigungen hochleben lassen!
    Ich indessen besaß diese Entschuldigung nicht. Ich langweilte mich nicht, da ich ja herrschte. An dem Abend, von dem ich Ihnen erzählen will, langweilte ich mich sogar weniger denn je. Nein, ich begehrte wahrhaftig nicht, dass etwas geschehen möge. Und doch … Wie soll ich es Ihnen beschreiben? Es war ein schöner Herbstabend, noch warm in der Stadt, schon feucht an der Seine. Die Nacht brach herein. Im Westen war der Himmel noch hell, doch dunkelte es rasch; die Straßenlaternen verbreiteten ein schwaches Licht. Ich spazierte auf dem linken Seineufer flussaufwärts dem pont des Arts entgegen. Zwischen den geschlossenen Kästen der Bouquinisten sah man das Wasser heraufschimmern. Es waren nur wenige Menschen unterwegs: Paris saß bereits zu Tisch. Ich wühlte mit jedem Schritt in den gelben, staubigen Blättern, die noch an den Sommer gemahnten. Nach und nach füllte der Himmel sich mit Sternen, die man flüchtig gewahrte, sooft man aus dem Lichtkreis einer Laterne trat. Ich genoss die endlich eingekehrte Stille, die Milde des Abends, die Leere von Paris. Ich
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