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Der erste Weltkrieg

Der erste Weltkrieg

Titel: Der erste Weltkrieg
Autoren: Volker Berghahn
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drei Klassen eingeteilt hatte. Nach den vielen Opfern des Krieges, die alle Bürger Preußens an der Front und Heimatfront erbracht hatten, erschien die Herstellung der Gleichheit an der Wahlurne eine völlig gerechte und gerechtfertigte Konzession. Es war einfach nicht mehr zu vertreten, dass die Stimmen der großen Mehrheit der Wähler in der dritten Kategorie des restriktiven Wahlrechts gegenüber denen der Besitzenden in den höheren Klassen I und II nur einen Bruchteil wert waren.
    Folglich sicherte der Kaiser in seiner Botschaft eine Aufhebung der Restriktionen für die Nachkriegszeit zu. Zwar hegte Bethmann keine Hoffnungen, dass dieser Plan bei der auf den Endsieg setzenden OHL und den konservativen Eliten auf Zustimmung treffen würde. Aber er ahnte wohl nicht, dass das Reformversprechen – und mehr war es ja nicht – seine Widersacher so erregen würde, dass sie die Zurücknahme der Botschaft durchsetzten. Die Verschlechterung der inneren und äußeren Lage brachte wiederum den Reichstag auf den Plan, wo verschiedene Abgeordnete die negativen Folgen des U-Boot-Kriegs scharf kritisierten und die Mehrheitsparteien schließlich eine Friedensresolution verabschiedeten. Zutiefst alarmiert, machten die Konservativen und die OHL Bethmann für diese Entwicklungen verantwortlich und veranlassten seine Entlassung durch den Kaiser. An seine Stelle trat Georg Michaelis, ein Geschöpf der OHL.
    Wo auf diese Weise eine reaktionäre Machtpolitik getrieben wurde, kann es nicht verwundern, dass sich die ökonomisch motivierten Proteste für eine bessere Versorgung zur gleichen Zeit mehr und mehr politisierten und die enttäuschte Bevölkerung gegen politische Repression, exorbitante Annexionen und die Fortsetzung des Krieges sowie für sofortige Verfassungsreformen demonstrierte. Die OHL sowie die Propaganda der Rechten antworteten hierauf mit einer Politik des Trennstrichs. Wer nicht für ihre Strategie des unbedingten Sieges und die Bewahrung des innenpolitischen Status quo war, wurde zum«Reichsfeind» gestempelt. Der im August 1914 mühsam hergestellte und durch Bethmanns Dämpfungspolitik in der Kriegszielfrage notdürftig aufrechterhaltene Burgfriede brach 1917 endgültig zusammen. Wie einst vor 1914 wurde die sozialdemokratische Linke der Vaterlandslosigkeit angeklagt. Die deutsche Gesellschaft zerfiel politisch-ideologisch in zwei große Lager.
    Konservative Nationalisten und Alldeutsche aller Schattierungen begannen, einerseits die Endsieggläubigen und Annexionisten um sich zu sammeln und andererseits deren Kritiker und Opponenten als Verderber des Reiches zu denunzieren. Damit waren in ihren Augen zugleich die Verantwortlichen für die miserable Lage an Front und Heimatfront und auch schon die Sündenböcke für den Fall einer deutschen Niederlage gefunden. Die mit Ermunterung der OHL 1917 gegründete Vaterlandspartei wurde das neue Sammelbecken der Kriegszielbewegung und zugleich das Vehikel der Agitation gegen innenpolitische Veränderungen. Dabei nahm die Identifizierung der Reichsfeinde schärfere Formen an, je mehr sich der totale Krieg für das Reich zu einer Katastrophe entwickelte, an deren Ende die totale Niederlage stand.
    Gewiss konnte man den demonstrierenden Frauen und Fabrikarbeitern und -arbeiterinnen die Verantwortung für das Chaos zuschieben. Doch war es für die beabsichtigte Mobilisierung chauvinistischer Ressentiments noch effektiver, die Aufmerksamkeit auf kleinere, klar identifizierbare Minderheiten zu lenken. Obwohl sich die Propaganda der Alldeutschen und der Vaterlandspartei auch gegen andere Minoritäten richtete, wurden die Juden jetzt zur Hauptzielscheibe. Zu den Bemühungen, antisemitische Gefühle zu entfachen, gehörte auch eine infame «Judenzählung» in der Armee, deren Zweck es war nachzuweisen, dass jüdische Männer ihrer soldatischen Dienstpflicht zögerlicher nachgekommen waren als der christliche Durchschnittsbürger. Als die Statistik das Gegenteil ergab, wurde die Studie zurückgehalten, woraufhin die antisemitischen Propagandisten auf der Rechten ihre Lügen noch zügelloser verbreiteten. So kursierten gegen Kriegsende die unglaublichsten Geschichten über die Juden als internationale Drahtzieher undKriegsgewinnler, als rassisch minderwertige Schmarotzer und Feiglinge, die an einer deutschen Niederlage arbeiteten. Hier lag eine der Ursachen für den Judenhass der Nachkriegszeit, der dann auf gewiss verschlungenen Wegen im Holocaust des Zweiten Weltkriegs
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