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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer
Autoren: Daniel Silva
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ein Riß zwischen dem zweiten und dritten Brett, tiefe Kratzer und großflächige Absprengungen.
    Und wenn statt des Gemäldes sein Körper auf der Staffelei gestanden hätte? Kieferbruch, Bruch des rechten Wangenknochens, Bruch des linken Jochbeins, Absplitterungen an den Rückenwirbeln, Bruch der Speiche des linken Arms durch einen Hundebiß, der außerdem eine Tollwutprophylaxe erforderlich gemacht hatte. Hundert Stiche, um über zwanzig Schnitt-und Platzwunden auf seinem Gesicht zu schließen; dadurch Schwellungen, die nur sehr langsam abklangen und sein Gesicht noch immer entstellten.
    Er wünschte sich nur, er könnte für sein Gesicht tun, was er für dieses Gemälde zu tun im Begriff stand. Die behandelnden Ärzte in Tel Aviv hatten ihm erklärt, nur die Zeit könne ihm sein früheres Aussehen zurückgeben. Seither war ein Vierteljahr vergangen, und er mußte noch immer allen Mut zusammen-nehmen, um sein Spiegelbild zu betrachten. Außerdem wußte er, daß die Zeit nicht der treueste Freund eines fünfzigjährigen Gesichts war.
    In den folgenden eineinhalb Wochen tat Gabriel nichts anderes als lesen. In seiner Fachbibliothek standen mehrere große Standardwerke über Rogier, und Julian hatte zwei prachtvolle Bücher aus seiner eigenen Sammlung mitgeschickt - beide zufällig auf deutsch geschrieben. Er breitete sie auf seinem Arbeitstisch aus, kauerte auf einem hohen Holzhocker davor, machte einen runden Buckel wie ein Radrennfahrer und stützte sein Kinn in beide Hände. Zwischendurch sah er immer wieder auf und betrachtete nachdenklich das Gemälde auf seiner Staffelei oder hob den Kopf, um das in kleinen Bächen übers Oberlicht laufende Regenwasser zu beobachten. Danach senkte er wieder den Blick und las weiter.
    Er las Martin Davies und Lome Campbell. Er las Panofsky und Winkler, Hulin und Dijkstra. Und er las natürlich auch den zweiten Band von Friedländers Monumentalwerk über frühe niederländische Malerei. Wie hätte er ein Gemälde restaurieren können, das vielleicht ein Ro gier war, ohne erst den gelehrten Friedländer zu konsultieren?
    Während er arbeitete, ratterten Zeitungsausschnitte aus seinem Faxgerät - jeden Tag mindestens einer, manchmal auch zwei oder drei. Anfangs war der Fall als »die Affäre Rolfe« bekannt, woraus dann in den USA unweigerlich »Rolfegate« wurde. Den ersten Artikel brachte die Neue Zürcher Zeitung, dann griffen weitere Blätter in Bern, Luzern und Genf den Fall auf, der binnen kurzem auch die französischen und deutschen Medien erreichte. Der erste Artikel in englischer Sprache erschien in London, und zwei Tage später berichtete eine prominente US-Wochenzeitschrift über den Fall. Die Tatsachen waren dünn, die Storys spekulativ - spannende Lektüre, aber nicht unbedingt guter Journalismus. Angedeutet wurde, Rolfe habe eine geheime Kunstsammlung besessen, angedeutet wurde auch, er sei ihretwegen ermordet worden. Es gab Vermutungen, der publicityscheue Schweizer Finanzier Otto Gessler sei in den Fall verwickelt, aber sein Sprecher dementierte solche Berichte als bösartige Lügen und Unterstellungen. Mit derartigen Storys war schnell Schluß, als Gesslers Anwälte ziemlich unverblümt mit Unterlassungs-und Schadenersatzklagen drohten.
    Die Schweizer Linke forderte einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß und brachte den Bundesrat damit in Zugzwang. Eine Zeitlang sah es wirklich so aus, als würde Bern tiefer als nur in der Humusschicht schürfen müssen. Namen würden genannt werden! Reputationen würden ruiniert werden!
    Aber der Skandal flaute rasch wieder ab. Schönfärberei!  protestierte die Schweizer Linke. Die Schweiz sollte sich schämen! riefen die jüdischen Organisationen. Ein weiterer Skandal, der in die Gullys der Bahnhofstraße gekehrt wurde und in ihnen verschwand. Die Alpen hatten die schlimmste Wucht des Sturms abgehalten. Bern und Zürich blieben unbeschädigt.
    Kurze Zeit später gab es eine merkwürdige Nachschrift zu dieser Geschichte. Gerhardt Peterson, ein hoher Beamter des internen Schweizer Sicherheitsdienstes, wurde im Berner Oberland in einer Gletscherspalte tot aufgefunden - offensichtlich beim Bergwandern verunglückt. Nur Gabriel, der diese Meldung allein in seinem Atelier in Cornwall las, wußte, daß Petersons Tod kein Bergunfall war. Gerhardt Peterson war nur ein weiteres Depot im Bankhaus Gessler.
    Anna Rolfe gelang es, sich aus den Skandalen herauszuhalten, die ihren ermordeten Vater umrankten. Nach ihrem
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