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Der Eid der Heilerin

Der Eid der Heilerin

Titel: Der Eid der Heilerin
Autoren: Posie Graeme-evans
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Weise, wie die Menschen miteinander umgingen, empfand sie den Gestank. Die Stadt roch wie ein Misthaufen. Der Gestank von Tierexkrementen vermischte sich mit einer unsichtbaren Wolke säuerlichen Menschenschweißes, der der ungewaschenen Wollkleidung der Leute entströmte.
    Sie, die saubere Waldluft und die Reinheit unberührter Schneeflächen gewöhnt war, musste sich förmlich zum Atmen zwingen. Sie musste Luft holen und sich daran gewöhnen. Und sie musste versuchen, nicht auf die Blicke fremder Männer zu achten, die sie keck anstarrten und von oben bis unten musterten in der Hoffnung, die Formen ihres Körpers unter dem Mantel auszumachen. Einer zog ihr sogar die Kapuze vom Kopf, um ihr ins Gesicht zu sehen. Als sie ihm auf die Hand schlug, lachte er über ihre Bestürzung - und über ihr Temperament.
    Nach diesem Vorfall hatte Anne stets Angst, Deborah aus den Augen zu verlieren. Wie ein Kind hielt sie sich am Mantel ihrer Ziehmutter fest, während diese geduldig auf das andere Ende der Brücke zusteuerte.
    Die Häuser auf der Brücke standen so dicht beisammen, dass das Mädchen den darunter liegenden Fluss nicht sehen konnte. Doch sie hörte das Tosen des Wassers, das gegen die Brückenpfeiler schlug, und sie hörte das Ächzen des Eises, das unter den reißenden Wassermassen zerbarst. In diesem Augenblick überkam sie die Angst.
    Was, wenn die Brücke, so mächtig sie auch sein mochte, unter der Last der vielen Menschen und Häuser einbrach und sie in das strudelnde Wasser stürzten? Als wollte sie die unausgesprochene Frage beantworten, drehte Deborah sich um und lächelte sie zuversichtlich an.
    »Es braucht mehr als ein wenig Schmelzwasser, um diese alte Brücke zum Einstürzen zu bringen. Keine Angst, meine Kleine. Noch eine Stunde müssen wir es hier aushalten. Bleib so dicht hinter mir, wie du kannst.«
    Aber auch die Geräusche der Stadt waren überwältigend. Sie strömten mit solch einer Macht auf sie ein, dass sie sie fast körperlich wahrnahm. Tags zuvor hatte sie sie zum ersten Mal gehört, noch bevor sie zur Stadtmauer und dem Kloster der Armen Klarissen gekommen waren, wo sie die Nacht verbracht hätten. Es war wie ein kommendes und gehendes Murmeln im Wind gewesen, als sie über die lehmigen Straßen zur Stadt wanderten - ein stetes Summen, das keinem Geräusch glich, das das Mädchen je gehört hatte. Als sie neben den anderen Frauen auf der rauen Strohmatte lag, stellte sie sich vor, es wäre die Stimme eines wilden Tieres, das selbst in den dunkelsten Stunden der Nacht nie ganz verstummte. In diesen Stunden war sie noch glücklich und aufgeregt gewesen, nach London zu gehen.
    Nun schob sie sich hinter Deborah über die Brücke und schaute zu den Wolken hoch, um nach dem Wetter Ausschau zu halten, doch zwischen den Häusern war nur ein winziges Fleckchen Himmel zu erkennen. Tiefe Traurigkeit übermannte sie.
    Anne hatte ihr ganzes Leben, beinahe fünfzehn Jahre, zwischen den Bäumen ihres und Deborahs Waldes gelebt. Aber Himmel und Wolken waren über ihrer kleinen Hütte aus Lehm und Flechtwerk stets zu sehen gewesen.
    Wenn es warm war, saß Anne auf der höchsten Stelle des strohgedeckten Häuschens. Von dort konnte sie das Wetter beobachten, konnte sehen, wo ihr Wald endete und wo das Dorf mit seinen verstreuten Hütten begann. Auf der Lichtung, auf der ihre Hütte stand, war es immer still, nur das Rauschen des Windes, das Schreien der Vögel oder das Ächzen des Rotwilds im Dickicht des Waldes waren zu hören. Hier jedoch war die mächtige Stimme dieses fremden Ortes allgegenwärtig, sie dröhnte in ihrem Kopf und erlaubte ihr kaum zu denken.
    Bald würden sie und Deborah sich trennen müssen, und sie würde allein in der summenden, brausenden, stinkenden Masse zurückbleiben.
    Und alles nur wegen des letzten Samhains, jenes Festtages, an dem sich die Pforten zwischen der Dieswelt und der Anderswelt öffnen und der Winter beginnt, Sie hatten sich, wie jedes Jahr, mit den Dörflern auf der Gemeindewiese versammelt und Blutwürste zum Fest mitgebracht, da sie ihr Schwein, das sie das Jahr über gemästet hatten, gerade geschlachtet hatten. Es war der Blutmonat, in dem die Tiere, die nicht über den Winter gefüttert wurden, geschlachtet wurden. Als die letzten Tropfen des Sommerbiers getrunken waren, hatte Deborah die Dorfleute damit unterhalten, jedem die Zukunft vorauszusagen, der es wollte. Sehr zum Missfallen des Pfarrers. Er war ein braver Mann, der sich redlich bemühte, die Leute
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