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Der Eid der Heilerin

Der Eid der Heilerin

Titel: Der Eid der Heilerin
Autoren: Posie Graeme-evans
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Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Mit aller Kraft zog sie am linken Zügel, während das Mädchen unentwegt schrie.
    Irritiert von dem Geschrei kam das Pferd aus dem Tritt und strauchelte. Das genügte. Jehanne riss erneut am Zügel und schnitt dem Pferd brutal das Zaumzeug ins Maul. Das Tier wandte sich zögernd nach links und verfehlte nur knapp einen großen herabhängenden Ast. Nun zog Jehanne mit vor Anstrengung schmerzenden Armen an beiden Zügeln gleichzeitig und zwang das verängstigte Tier zum Stehen.
    Bevor Jehanne es verhindern konnte, glitt Alyce zu Boden. Stöhnend landete sie unmittelbar vor den tanzenden Hufen des Pferdes. Mit letzter Kraft lenkte Jehanne das Pferd zurück, ehe sie aus dem Sattel sprang, hastig die Zügel um einen Ast schlang und zu Alyce lief.
    Das Mädchen winselte wie ein gefangenes Tier. »Ich bin bei dir, mein Goldkind, nur ruhig, ruhig, kleine Alyce«, murmelte Jehanne. Doch die Geburt ging nicht gut voran. Dem zerbrechlichen Körper des Mädchens, der sich in die blutverschmierten Falten ihres Rocks grub, gelang es trotz aller Anstrengung nicht, das Kind durch den Geburtskanal zu pressen.
    Das spärliche Mondlicht erhellte ein starres, weißes Gesicht, das zu einem qualvollen Grinsen verzerrt war, und Jehanne wusste, dass sie, wenn sie zwischen Mutter und Kind zu wählen hatte, das Kind retten musste. Jehanne wischte sich die Hände an ihrem Überrock ab, betete inbrünstig zur heiligen Anna, Mutter der Jungfrau und Schutzheiligen der Gebärenden, und ließ so sanft wie möglich ihre Finger in den Leib des Mädchens gleiten, um nach dem Köpfchen zu tasten, so wie sie es beim Oberhirten ihres Vaters gesehen hatte, wenn die Mutterschafe in kalten Nächten nicht gebären konnten.
    Alyce versank immer tiefer im Fieberwahn, aber Jehanne versuchte alles, den Lebenswillen des Mädchens wachzurufen. »Pressen, Alyce. Komm, noch einmal kräftig pressen - hilf mir doch, Kind.« Doch Alyce reagierte nicht. Jehanne wischte sich hektisch die Tränen ab, dann schlug sie das Mädchen so heftig ins Gesicht, dass ihre Finger rote Abdrücke auf der weißen Haut hinterließen. »Alyce! Drücken, drück für mich, für dein Kindchen. Press!« Als das arme Mädchen sich aufbäumte, spürte Jehanne den Kopf des Kindes an ihren Fingern. »Da ist es - press, press es heraus. Beim Blut des Herrn - press!«
    Mit einem langgezogenen Heulen setzte sich das Mädchen halb auf und presste das Kind in Jehannes Hände - weiß, von Schleim und Blut bedeckt, aber lebendig und laut schreiend. Es war ein Mädchen von stattlicher Größe und Gewicht - vor allem deshalb hatte die Mutter so lang in den Wehen gelegen. Ungeachtet der Kälte zog Jehanne sich den Überrock über den Kopf, hüllte den Säugling in das ärmellose Gewand und legte ihn Alyce auf den Bauch. Die Nabelschnur pulsierte noch, und die Nachgeburt war noch nicht ausgestoßen. Doch es hatte Zeit bis später, die letzte leibliche Verbindung zwischen Mutter und Kind zu kappen. Jehanne wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Alyce zu. Entsetzt stellte sie fest, dass sie nichts mehr für sie tun konnte. Ein Blutschwall ergoss sich auf die Erde, und wenn die Nachgeburt käme, würde sie nur noch schlimmer bluten. Das Mädchen würde sterben.
    Der Säugling wimmerte. Traurig knüpfte Jehanne das Mieder ihrer Herrin auf, zog sie zu sich heran, so dass sie halb zum Sitzen kam, und legte ihr den Säugling an die Brust. Sie lächelte schwach, als das Kind gierig zu saugen begann.
    Langsam öffnete Alyce ihre Augen. Jehannes Herz wollte überlaufen, als sie sah, wie das Mädchen den winzigen Kopf des Säuglings betrachtete: Ein Ausdruck inniger Liebe erschien auf ihrem Gesicht, und sie schien von innen zu leuchten. Unendlich sanft zupfte Alyce die Falten des Überrocks zurecht, damit der Säugling besser zugedeckt war, und versuchte zu sprechen. »Jehanne, in meiner Tasche ... Schere ...« Ihre Stimme war kaum ein Flüstern.
    Jehanne nestelte an dem kleinen Beutel, der an Alyces schmalem Flechtgürtel hing, und fand eine winzige Schere mit goldenen Griffen und getriebenen Silberschneiden, die für feine Handarbeiten gefertigt worden und sehr kostbar war. Schnell nahm Jehanne den Gürtel ab, band damit die Nabelschnur ab, die, soweit sie es in dem ungewissen Licht erkennen konnte, aufgehört hatte zu pulsieren, holte tief Luft und trennte sie durch.
    In diesem Augenblick stieß das Mädchen ein leises Seufzen aus, als wäre etwas in ihr zerbrochen. Die
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