Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
Vom Netzwerk:
übernehmen. Außerdem verpflichtete er sich, beiden das Studium zu bezahlen, wenn die jungen Leute die Befähigung und den Willen dazu zeigten. Irene und Dorian wiederum konnten ihrer Mutter bei den Aufgaben zur Hand gehen, die diese ihnen im Haus zuwies, solange sie sich an die goldene Regel hielten und niemals die von seinem Besitzer abgesteckten Grenzen überschritten.
    In Anbetracht der letzten Monate in Schulden und Elend erschien Lazarus’ Angebot Simone Sauvelle wie ein Geschenk des Himmels. Die Blaue Bucht war eine paradiesische Umgebung, um mit ihren Kindern ein neues Leben anzufangen. Die Stelle war attraktiv, und es sah ganz so aus, als ob Lazarus ein großzügiger, gütiger Arbeitgeber wäre. Früher oder später musste ihnen das Glück wieder hold sein. Das Schicksal hatte sie an diesen abgelegenen Ort geführt, und zum ersten Mal seit langem war Simone gerne bereit, dem Schicksal Folge zu leisten. Mehr noch, wenn ihr Gefühl sie nicht trog– und das tat es selten–, spürte sie, dass ihr und ihrer Familie aufrichtige Sympathie entgegengebracht wurde. Sie konnte sich durchaus vorstellen, dass ihre Gesellschaft und ihre Anwesenheit auf Cravenmoore Balsam für die unendliche Einsamkeit sein mochte, die seinen Besitzer zu umfangen schien.
    Das Abendessen endete mit einer Tasse Kaffee und Lazarus’ Versprechen, den zutiefst faszinierten Dorian irgendwann in die Geheimnisse der Herstellung von Automaten einzuweihen. Bei diesem Angebot begannen die Augen des Jungen zu leuchten, und für einen kurzen Moment trafen sich Lazarus’ und Simones Blicke im Kerzenschein. Simone entdeckte in ihnen die Spur jahrelangen Alleinseins, einen Schatten, den sie nur zu gut kannte. Ziellos dahintreibende Schiffe, deren Wege sich in der Nacht kreuzen. Der Spielzeugfabrikant wandte den Blick ab und stand schweigend auf, um die Tafel aufzuheben.
    Dann begleitete er sie zum Haupteingang, wobei er hin und wieder kurz stehen blieb, um ihnen eines der Wunderwerke zu erklären, die ihren Weg säumten. Dorian und Irene lauschten seinen Erläuterungen mit offenem Mund. Cravenmoore beherbergte so viele wundersame Dinge, dass es für hundert Jahre Staunen gereicht hätte. Kurz bevor sie die Eingangshalle erreichten, blieb Lazarus vor einer komplizierten Apparatur aus Spiegeln und Linsen stehen und warf Dorian einen rätselhaften Blick zu. Wortlos steckte er den Arm in einen Spiegelschacht. Das Abbild seiner Hand löste sich langsam auf, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen war. Lazarus lächelte.
    »Du darfst nicht alles glauben, was du siehst. Das Abbild der Wirklichkeit, das unsere Augen wiedergeben, ist nur eine Illusion, ein optischer Effekt«, sagte er. »Das Licht ist eine große Lügnerin. Gib mir deine Hand.«
    Dorian folgte den Anweisungen des Spielzeugfabrikanten und ließ zu, dass dieser seine Hand ebenfalls in den Spiegelschacht schob, wo seine Hand vor seinen Augen verschwand. Dorian wandte sich mit einer stummen Frage im Blick zu Lazarus.
    »Kennst du dich mit den Gesetzen der Optik und des Lichts aus?«, fragte der.
    Dorian schüttelte den Kopf. In diesem Moment wusste er nicht einmal, wo seine rechte Hand war.
    »Die Magie ist nur eine Erweiterung der Physik. Wie steht es mit der Mathematik?«
    »Mit Ausnahme der Trigonometrie, so lala…«
    Lazarus lächelte.
    »Damit werden wir beginnen. Die Phantasie besteht aus Zahlen, Dorian. Das ist der ganze Trick.«
    Der Junge nickte, ohne genau zu wissen, wovon Lazarus sprach. Schließlich wies dieser zur Tür und begleitete sie bis auf die Schwelle. In diesem Augenblick glaubte Dorian etwas zu sehen, das unmöglich war. Als sie an einer der flackernden Laternen vorbeikamen, zeichneten sich die Schatten ihrer Körper an den Wänden ab. Alle bis auf einen: der von Lazarus hinterließ keine Spur an der Wand, als sei seine Gegenwart nur eine Illusion.
    Als er sich umdrehte, beobachtete Lazarus ihn aufmerksam. Der Junge schluckte. Der Spielzeugfabrikant kniff ihm zärtlich in die Wange, scherzhaft.
    »Glaub nicht alles, was deine Augen sehen…«
    Und Dorian folgte seiner Mutter und seiner Schwester nach draußen.
    »Danke für alles, und gute Nacht«, sagte Simone zum Abschluss.
    »Es war mir ein Vergnügen. Und das sage ich nicht aus Höflichkeit«, erklärte Lazarus herzlich. Er lächelte freundlich und hob zum Abschied die Hand.
     
    Kurz vor Mitternacht machten sich die Sauvelles auf den Rückweg durch den Wald zum Haus am Kap.
    Dorian war ganz still. Er stand noch unter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher