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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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dem Eindruck von Lazarus Janns wundersamem Anwesen. Irene war weit weg, in ihre eigenen Gedanken vertieft. Simone wiederum atmete beruhigt auf und dankte Gott für das Glück, das er ihnen gesandt hatte.
    Kurz bevor die Umrisse von Cravenmoore hinter ihnen verschwanden, drehte sich Simone noch einmal um, um es ein letztes Mal zu betrachten. Ein einziges Fenster im zweiten Stock des Westflügels war noch erleuchtet. Eine Gestalt stand reglos hinter den Vorhängen. Genau in diesem Moment verlosch das Licht, und das hohe Fenster versank in Dunkelheit.
     
    Zurück in ihrem Zimmer, zog Irene das Kleid aus, das ihre Mutter ihr geliehen hatte, und legte es sorgfältig über den Stuhl. Im Nachbarzimmer waren Simones und Dorians Stimmen zu hören. Das Mädchen löschte das Licht und legte sich aufs Bett. Blaue Schatten huschten über den klaren Himmel wie tanzende Gespenster im Nordlicht. Das Murmeln der Wellen, die sich an den Klippen brachen, liebkoste die Stille. Irene schloss die Augen und versuchte vergeblich zu schlafen.
    Es war kaum zu glauben, dass sie von dieser Nacht an ihr altes Zimmer in Paris nie mehr wiedersehen würde und auch nicht mehr in das Tanzlokal gehen musste, um sich die paar Münzen zu verdienen, die die Soldaten dabeihatten. Sie wusste, dass die Schatten der großen Stadt sie hier nicht erreichen konnten, doch die Erinnerungen ließen sich nicht aufhalten. Sie stand wieder auf und trat ans Fenster.
    Der Leuchtturm ragte in der Dunkelheit auf. Sie betrachtete die Insel im weißen Nebel. Ein flüchtiger Lichtreflex schien aufzuleuchten, wie das Aufblitzen eines Spiegels in der Ferne. Sekunden später erschien der Lichtstrahl erneut, um dann endgültig zu verschwinden. Irene runzelte die Stirn und bemerkte, dass ihre Mutter unten auf der Veranda stand. In einen dicken Pullover gehüllt, betrachtete sie schweigend das Meer. Irene brauchte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie weinte und dass sie beide lange brauchen würden, um einzuschlafen. In dieser ersten Nacht im Haus am Kap, nach diesem ersten Schritt, der sie dem Horizont des Glücks näherzubringen schien, machte sich Armand Sauvelles Fehlen schmerzlicher bemerkbar als je zuvor.

3. Die Blaue Bucht
    Kein Morgen ihres Lebens war Irene je strahlender vorgekommen als dieser 22.Juni 1937. Das Meer glitzerte diamanten unter einem Himmel, der von einer solchen Klarheit war, wie sie es in den Jahren in der Stadt nie für möglich gehalten hätte. Von ihrem Fenster aus war die Leuchtturminsel nun ganz deutlich zu erkennen, genau wie die kleinen Felsen in der Mitte der Bucht, die aussahen wie der Kamm eines Meeresdrachens. Die ordentlich aufgereihten Häuser an der Uferpromenade des Dorfes, hinter dem Strand des Engländers, verschwammen im Dunst, der von der Fischermole aufstieg, zu einem flimmernden Aquarell. Wenn sie die Augen halb schloss, wirkte das Bild wie das Paradies von Claude Monet, dem Lieblingsmaler ihres Vaters.
    Irene riss das Fenster weit auf und ließ die salzgeschwängerte Meeresluft ins Zimmer strömen. Die Möwen, die auf den Klippen hockten, beäugten sie neugierig. Neue Nachbarn. Nicht weit von ihnen entfernt entdeckte Irene Dorian, der sich bereits an seinen Lieblingsplatz zwischen den Felsen zurückgezogen hatte, wo er Luftspiegelungen und kleine Tiere abzeichnete… oder was auch immer er auf seinen einsamen Ausflügen trieb.
    Irene war bereits ganz mit der Frage beschäftigt, was sie an diesem traumhaften Tag anziehen sollte, als eine unbekannte, glockenhelle Plapperstimme aus dem unteren Stockwerk zu ihr hinaufdrang. Nach ein paar Sekunden aufmerksamen Lauschens hörte sie die ruhige, sanfte Stimme ihrer Mutter heraus, die sich unterhielt oder vielmehr versuchte, kurze Bemerkungen in den wenigen Atempausen unterzubringen, die ihre Gesprächspartnerin machte.
    Während sie sich anzog, versuchte Irene anhand der Stimme zu erraten, wie diese Person wohl aussehen mochte. Schon als Kind war das einer ihrer liebsten Zeitvertreibe gewesen: mit geschlossenen Augen eine Stimme zu hören und sich vorzustellen, zu wem sie wohl gehörte. Sich die Statur dazu auszumalen, das Gesicht, den Charakter…
    Diesmal sah sie vor ihrem inneren Auge eine junge Frau, nicht sehr groß, quecksilbrig und quirlig, mit dunklem Haar und wahrscheinlich dunklen Augen. Mit diesem Bild im Kopf ging sie nach unten– um ihren Appetit auf ein ordentliches Frühstück zu stillen und vor allem ihre Neugier auf die Besitzerin dieser
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