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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Tag um Tag zu überstehen.
    Du wirst erfahren haben, dass Dorian eingezogen wurde und zwei Jahre in Nordafrika diente, von wo er mit einem Haufen absurder Blechmedaillen und einer Verletzung zurückkehrte, durch die er für den Rest seines Lebens hinken wird. Und er war einer der Glücklichen. Er kehrte zurück. Es wird Dich freuen, zu hören, dass er schließlich eine Anstellung im Kartographenamt der Handelsmarine bekam und in den raren Momenten, in denen seine Verlobte Michelle ihn lässt (Du müsstest sie sehen…), mit der Zirkelspitze Punkt für Punkt die Welt durchmisst.
    Was soll ich Dir über Simone erzählen? Ich beneide sie um ihre Stärke und diese Beharrlichkeit, mit der sie uns alle so häufig durchgebracht hat. Die Kriegsjahre sind hart für sie gewesen, vielleicht noch mehr als für uns. Sie spricht nie darüber, aber manchmal, wenn ich sie schweigend am Fenster stehen sehe, wie sie die Vorübergehenden betrachtet, frage ich mich, was wohl in ihrem Kopf vorgehen mag. Sie will das Haus nicht mehr verlassen und verbringt die Stunden in Gesellschaft von Büchern. Es ist, als wäre sie auf die andere Seite einer Brücke gegangen, zu der ich keinen Zutritt habe … Manchmal überrasche ich sie dabei, wie sie alte Fotos von Papa betrachtet und dabei still vor sich hin weint.
    Was mich betrifft, mir geht es gut. Vor einem Monat habe ich im Lazarett Saint Bernard aufgehört, wo ich in den vergangenen Jahren gearbeitet hatte. Es wird abgerissen. Hoffentlich verschwinden mit dem alten Gebäude auch die Erinnerungen an das Leid und den Schrecken, die ich während des Krieges dort miterlebt habe. Ich glaube, auch ich bin nicht mehr dieselbe, Ismael. In mir drinnen ist etwas geschehen.
    Ich habe vieles gesehen, von dem ich niemals dachte, dass es so etwas geben könne… Die Welt ist voller Schatten, Ismael. Schatten, die viel schlimmer sind als alles, wogegen wir beide in jener Nacht in Cravenmoore gekämpft haben. Schatten, neben denen Daniel Hoffmann nichts weiter ist als ein Kinderspielzeug. Schatten, die jeder Einzelne von uns in sich trägt.
    Manchmal bin ich froh, dass Papa sie nicht mehr sehen muss. Du wirst denken, dass ich eine wehmütige Träumerin geworden bin. Ganz und gar nicht. Als ich Deinen letzten Brief las, machte mein Herz einen Satz. Es war, als wäre nach zehn dunklen, regenverhangenen Jahren die Sonne wieder aufgegangen. Ich lief wieder am Strand des Engländers entlang, erkundete die Leuchtturminsel, segelte an Bord der
Kyaneos
durch die Bucht. In meiner Erinnerung werden diese Tage immer die wundervollsten meines Lebens sein.
    Ich will Dir ein Geheimnis verraten. In den langen Winternächten des Krieges, wenn die Schüsse und die Schreie durch die Dunkelheit hallten, wanderten meine Gedanken oft dorthin zurück, zu Dir, zu jenem Tag, den wir gemeinsam auf der Leuchtturminsel verbrachten. Hätten wir diesen Ort doch nie verlassen! Wäre dieser Tag doch nie zu Ende gegangen!
    Vermutlich wirst Du Dich fragen, ob ich geheiratet habe. Die Antwort lautet nein. Nicht dass Du glaubst, es hätte an Verehrern gemangelt. Ich bin immer noch eine recht begehrte junge Frau. Es gab ein paar Liebeleien. Sie kamen und gingen. Die Kriegstage waren zu hart, um alleine zu sein, und ich bin nicht so stark wie Simone. Aber mehr war es nicht. Ich habe gelernt, dass das Alleinsein manchmal ein Weg ist, der zum Frieden führt. Und monatelang habe ich mir nichts mehr gewünscht als das: Frieden.
    Das ist alles. Oder nichts. Wie soll ich Dir all meine Gefühle, all meine Erinnerungen dieser Jahre schildern? Am liebsten würde ich sie mit einem Federstrich tilgen. Ich wünschte, meine letzte Erinnerung wäre die an jenen Sonnenaufgang am Strand und ich würde feststellen, dass all diese Zeit nur ein langer Alptraum gewesen ist. Ich wäre gerne wieder ein fünfzehnjähriges Mädchen, das die Welt um sich herum nicht begreift, doch das ist unmöglich.
    Ich will nicht mehr schreiben. Beim nächsten Mal würde ich gerne persönlich mit Dir sprechen.
    In einer Woche wird Simone für ein paar Monate zu ihrer Schwester nach Aix-en-Provence fahren. An diesem Tag werde ich zur Gare d’Austerlitz gehen und wie vor zehn Jahren den Zug in die Normandie nehmen. Ich weiß, dass Du mich erwarten wirst, und ich weiß, dass ich Dich in der Menge erkennen werde, so wie ich Dich auch erkennen würde, wenn tausend Jahre vergangen wären. Das weiß ich schon lange.
    Vor einer Ewigkeit, in den schlimmsten Tagen des Krieges, hatte ich
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