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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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entlang. Er wird bald zurückkommen.«
    Lazarus führte sie durch die Tür hinaus.
    »Was ist das? Was haben wir da gesehen?«, fragte Ismael.
    Lazarus sah ihn lange an.
    »Das bin ich. Das, was du gesehen hast, bin ich…«
     
    Lazarus führte sie durch ein verworrenes Tunnellabyrinth, das sich parallel zu Fluren und Korridoren durch Cravenmoore zu ziehen schien. Zu beiden Seiten der schmalen Gänge lagen zahlreiche verschlossene Türen, Zweitzugänge zu den vielen Dutzend Zimmern und Salons des Hauses. Ihre Schritte hallten in dem engen Gang wider und erweckten den Eindruck, dass sie von einer unsichtbaren Armee verfolgt würden.
    Lazarus’ Laterne warf einen warmen Lichtkreis auf die Wände. Ismael beobachtete, wie ihre Schatten, seiner und Irenes, neben ihnen an der Wand entlangwanderten. Lazarus warf keinen Schatten. Der Spielzeugfabrikant blieb vor einer hohen, schmalen Tür stehen, zog einen Schlüssel hervor und schloss auf. Er spähte ans Ende des Ganges, durch den sie gekommen waren, und bedeutete ihnen dann, einzutreten.
    »Hier entlang«, sagte er nervös. »Hierher wird er nicht kommen. Zumindest nicht in den nächsten Minuten…«
    Ismael und Irene wechselten einen misstrauischen Blick.
    »Euch bleibt nichts anderes übrig, als mir zu vertrauen«, gab Lazarus zu bedenken.
    Der Junge seufzte und betrat dann das Zimmer, gefolgt von Irene und Lazarus. Dieser schloss die Tür wieder. Im Schein der Laterne war eine Wand mit unzähligen Fotografien und Zeitungsartikeln zu sehen. In einer Ecke standen ein kleines Bett und ein kahler Schreibtisch. Lazarus stellte die Laterne auf dem Fußboden ab und sah zu, wie die beiden Jugendlichen all diese Papierschnipsel betrachteten, die an der Wand klebten.
    »Ihr müsst Cravenmoore verlassen, solange noch Zeit ist.«
    Irene drehte sich zu ihm um.
    »Er will nicht euch«, setzte der Spielzeugfabrikant hinzu, »sondern Simone.«
    »Weshalb? Was hat er mit ihr vor?«
    Lazarus senkte den Blick.
    »Er will sie vernichten. Um mich zu strafen. Und euch steht das gleiche Schicksal bevor, wenn ihr euch ihm in den Weg stellt.«
    »Was hat das alles zu bedeuten? Was wollen Sie uns damit sagen?«, fragte Ismael.
    »Ich habe euch alles gesagt, was ich zu sagen habe. Ihr solltet von hier verschwinden. Früher oder später wird er zurückkehren, und dann kann ich nichts mehr tun, um euch zu schützen.«
    »Aber– wer wird zurückkommen?«
    »Du hast ihn mit eigenen Augen gesehen.«
    In diesem Moment war irgendwo im Haus ein fernes Grollen zu hören. Es kam näher. Irene schluckte und sah Ismael an. Schritte. Einer nach dem anderen, dröhnend wie Schüsse, immer näher. Lazarus lächelte schwach.
    »Das ist er«, verkündete er. »Euch bleibt nicht viel Zeit.«
    »Wo ist meine Mutter? Wohin hat er sie gebracht?«, wollte das Mädchen wissen.
    »Ich weiß es nicht, aber selbst wenn ich es wüsste, würde es nichts nützen.«
    »Sie haben diese Maschine mit ihrem Gesicht gebaut…«, warf Ismael ihm vor.
    »Ich glaubte, er würde sich damit begnügen, aber er wollte mehr. Er wollte sie.«
    Die entsetzlichen Schritte waren nun hinter der Tür zu hören. Sie kamen den Gang entlang.
    »Auf der anderen Seite dieser Tür«, erklärte Lazarus, »liegt ein Gang, der zur Haupttreppe führt. Wenn ihr noch einen Funken Verstand besitzt, dann lauft und betretet dieses Haus nie wieder.«
    »Wir gehen nirgendwo hin«, erklärte Ismael. »Nicht ohne Simone.«
    Die Tür, durch die sie gekommen waren, wurde heftig erschüttert. Sekunden später sickerte eine schwarze Masse unter der Türschwelle hindurch.
    »Lass uns verschwinden«, drängte Ismael.
    Der Schatten legte sich um die Laterne und zerbrach das Glas. Ein eisiger Lufthauch ließ die Flamme verlöschen. Aus der Dunkelheit sah Lazarus, wie Irene und Ismael durch den zweiten Ausgang entkamen. Neben ihm formte sich eine schwarze, geheimnisvolle Gestalt.
    »Lass sie in Ruhe«, flüsterte er. »Es sind nur zwei Kinder. Lass sie gehen. Nimm endlich mich. Ist es nicht das, was du willst?«
    Der Schatten lachte.
     
    Der Flur, in dem sie sich befanden, kreuzte die zentrale Achse von Cravenmoore. Irene erkannte das Gewirr von Gängen wieder und führte Ismael unter der Kuppel hindurch. Hinter den Scheiben waren die vorüberziehenden Wolken zu sehen, gewaltige Riesen aus schwarzer Watte, die ihre Bahn am Himmel zogen. Die Laterne, die den Scheitel der Kuppel bekrönte, verbreitete einen Kranz kaleidoskopartiger Reflexe.
    »Da entlang«, bestimmte das
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