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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Autoren: Stephen King
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Broadcloak fortgeschickt hatten, hat Eure ehrenwerte Mutter ihre Einkehr bei uns beendet. Sie hat erklärt, sie habe eine Pflicht zu erfüllen und viel wiedergutzumachen. Sie hat gesagt, ihr Sohn werde hierherkommen. Als ich gefragt habe, woher sie das wisse, hat sie geantwortet: ›Weil Ka ein Rad ist und sich immer dreht.‹ Dies hier hat sie für Euch zurückgelassen.«
    Everlynne zog eine der vielen Schubladen ihres Schreibtischs auf, kramte darin herum und nahm schließlich einen Umschlag heraus. Er trug meinen Namen in einer Handschrift, die ich sehr gut kannte. Nur mein Vater hätte sie besser gekannt. Geschrieben hatte ihn eine Hand, die einst die Seiten eines schönen, alten Buchs umgeblättert hatte, aus dem mir »Der Wind durchs Schlüsselloch« vorgelesen wurde. Aye, und viele andere Bücher. Ich hatte all die Geschichten auf den von ihr umgeblätterten Seiten geliebt, aber nichts so sehr wie die Hand selbst. Und noch mehr hatte ich die Stimme geliebt, mit der meine Mutter mir vorgelesen hatte, während draußen der Wind heulte. Das war in der glücklichen Zeit gewesen, bevor sie irregeführt worden und in die traurige Ehebrecherei verfallen war, die sie vor einen Revolver geführt hatte, den eine andere Hand hielt. Meine.
    Everlynne stand auf und strich ihre große Schürze glatt. »Ich muss gehen und in anderen Teilen meines kleinen Königreichs nach dem Rechten sehen. Ich sage Euch jetzt Lebewohl, Roland, Sohn von Gabrielle, und bitte Euch nur, die Tür zu schließen, wenn Ihr geht. Sie verriegelt sich von selbst.«
    »Ihr vertraut mir Eure Sachen an?«, sagte ich.
    Sie lachte, kam hinter dem Schreibtisch hervor und küsste mich wieder. »Revolvermann, Euch würde ich mein Leben anvertrauen«, sagte sie und verließ dann den Raum. Sie war so groß, dass sie in der Tür den Kopf einziehen musste.
    Ich saß lange da und betrachtete Gabrielle Deschains letztes Schreiben. Mein Herz war voller Hass und Liebe und Trauer – lauter Empfindungen, die mich seither nie mehr losgelassen haben. Ich überlegte, ob es ungelesen verbrennen sollte, aber schließlich riss ich den Umschlag doch auf. Er enthielt ein einzelnes Blatt Papier. Die Zeilen waren krumm, die Taubentinte, mit der sie geschrieben waren, an vielen Stellen klecksig. Ich ahnte, dass die Frau, die dies geschrieben hatte, darum gekämpft hatte, sich den letzten Rest Vernunft zu bewahren. Ich weiß nicht, ob viele ihre Zeilen verstanden hätten. Mein Vater hätte sie verstanden, dessen bin ich mir sicher, aber ich habe sie ihm nie gezeigt oder von ihnen gesprochen.
    Das Festmahl, das ich gegessen, war verdorben
    was ich für einen Palast gehalten, war ein Kerker
    wie es brennt, Roland
    Ich musste an Wegg denken, wie er an dem Schlangenbiss starb.
    Gehe ich zurück und erzähle, was ich weiß
    was ich belauscht habe
    kann Gilead noch für ein paar Jahre gerettet werden
    du kannst für ein paar Jahre gerettet werden
    dein Vater der sich nie viel aus mir gemacht hat
    Die Worte »der sich nie viel aus mir gemacht hat« waren mehrfach dick durchgestrichen, aber ich konnte sie trotzdem lesen.
    er sagt, dass ich mich nicht traue
    er sagt: »Bleib in Serenitas, bis der Tod dich findet.«
    er sagt: »Gehst du zurück, ereilt dich der Tod frühzeitig.«
    er sagt: »Dein Tod wird den Einzigen auf der Welt vernichten den du wirklich liebst.«
    er sagt: »Willst du von der Hand deines Balgs sterben und sehen wie
    alle Herzensgüte
    alle Freundlichkeit
    alle Zärtlichkeit
    aus ihm rinnt wie Wasser aus einer Schöpfkelle?
    für Gilead, das sich nie viel aus dir gemacht hat
    und ohnehin sterben wird?«
    Aber ich muss zurückgehen. Ich habe im Gebet Rat gesucht
    und darüber meditiert
    und die Stimme, die ich höre, spricht immer dieselben Worte:
    DIES IST DAS WAS KA FORDERT
    Darunter stand noch mehr, Worte, die ich in meinen Wanderjahren nach der verhängnisvollen Schlacht am Jericho Hill und dem Untergang von Gilead immer wieder mit dem Finger nachgezeichnet habe. Ich habe sie nachgezeichnet, bis das Papier zerfiel, und es dann dem Wind überlassen – dem Wind, der durchs Schlüsselloch der Zeit weht. Denn letzten Endes nimmt der Wind alles mit, nicht wahr? Und weshalb auch nicht. Wozu anders. Wären die Annehmlichkeiten unseres Lebens nicht endlich, gäbe es gar keine Annehmlichkeiten.
    Ich blieb in Everlynnes Arbeitszimmer, bis ich die Selbstbeherrschung zurückgewonnen hatte. Dann legte ich die letzten Worte meiner Mutter – ihren Abschiedsbrief – in meine
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