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Der dunkle Grenzbezirk

Der dunkle Grenzbezirk

Titel: Der dunkle Grenzbezirk
Autoren: Eric Ambler
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Barstow seufzte. Er hatte dergleichen seit Jahren nicht mehr gelesen. Der Mathematiker Barstow konnte den Romantiker Barstow nicht brauchen. Doch im Herzen eines Mannes stirbt der Sinn für Romantik nie. Die reine Vernunft mag sie entthronen, das tägliche Leben ihr keine Gelegenheit geben, sich zu entwickeln, aber sie lebt weiter, und erwischt den Mann in seinen schwachen Augenblicken und spornt ihn an in seinen besten. Der Verstand hatte den Professor an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht. Nun winkte die Phantasie in der farbenprächtigen Gestalt eines »Conway Carruthers«. Es war also nichts weiter als logisch, daß der Professor die erste Seite des Buches aufschlug und zu lesen begann.
    Der passionierte Leser von Abenteuergeschichten und Kriminalromanen verlangt vom Helden bloß eines: totale Leistungsfähigkeit. Sei dieser nun Detektiv oder Meisterverbrecher, er muß der Inbegriff der Vollkommenheit sein. Ist er einmal in einer kritischen Situation, so darf sie nur vorübergehend sein. Sein riesiges Arsenal an Erfahrung muß ihm in jedem Moment die richtige Waffe liefern, die ihn auch aus der verzweifeltsten Situation heraushaut, oder aber den glücklichen Einfall, der, wenn auch auf Umwegen, zum guten Ende führt.
    Professor Barstow machte da keine Ausnahme.
    Conway Carruthers befriedigte alle seine Ansprüche restlos.
    Es gab nichts, was dieser bemerkenswerte Mann nicht hätte vollbringen können. Verglichen mit andern Gestalten des Buches mußte er etwa vierzig Jahre alt sein. Dagegen sprach aber seine körperliche Leistungsfähigkeit, die jedem fünfundzwanzigjährigen Teilnehmer einer Olympiade Ehre gemacht hätte. Es war ihm auch im Laufe seines Lebens gelungen, einer Vielzahl von Menschen der verschiedensten Länder das Leben zu retten und Freundschaft mit ihnen zu schließen. Die Dankbarkeit dieser Glücklichen trug nicht wenig zu seinem Erfolg bei. Sooft ihm auch der Tod ins Auge starrte, immer rettete ihn ein Trick, den er von einem patagonischen Indianer oder einem bessarabischen Muschik gelernt hatte. Die Freundschaft mit einem chinesischen Jongleur oder einem Stauer aus Batavia wies einen Ausweg aus einer scheinbar ausweglosen Lage. Aber all diese seltsamen Kenntnisse hätten ihm ohne sein erstaunliches Wissen um menschliche Charaktere und Handlungsmotive wenig genützt. Seiner Fähigkeit, Feinde zu durchschauen, entsprach nur noch seine Fähigkeit, sich welche zu schaffen. Wenn er so nahe bei einem Menschen stand, daß er sehen konnte, wie nahe dessen Augen beieinander standen, so las er in diesem Menschen wie in einem offenen Buch. (Bei dieser Stelle fragte sich der Professor, ob wirklich die Formung des Stirnbeins vom Sittlichkeitsgefühl beeinflußt war.) Dem stahlharten Blick dieser kalten, grauen Augen zeigten sich scheinbar belanglose Geschehnisse in ihren wahren, düsteren Farben. Vom Glitzern des Messers, das der Mörder hinter ihm gezückt hatte (er bemerkte es gerade noch rechtzeitig), bis zum leichten Kratzen des Schlüssels im Schloß des alten Schreibtischs, nichts entging ihm. Darüber hinaus war er die Verschwiegenheit in Person. Könige und Königinnen, Kabinettsminister und Generale, Prälaten und östliche Potentaten, sie alle vertrauten ihm ihre Geheimnisse an. Hinter dieser hohen, graden Stirn ruhten Staatsgeheimnisse von schreckeneinflößender Bedeutung. Doch Carruthers Lippen waren auf ewig versiegelt. Er war frei von den Ängsten und Eitelkeiten der gewöhnlichen Sterblichen, von ihrer Beschränktheit und Tölpelhaftigkeit, und gehörte zu der illustren Gesellschaft der Sherlock Holmes, Raffles, Arsène Lupin, Bulldog Drummond und Sexton Blake.
    Der Professor hatte Groom und seine Geschäfte für einen Augenblick vergessen und war mit Conway Carruthers hinter dessen Beute her. In London erlebte er, wie ein Attentat auf Carruthers mißlang; in Paris war er dabei, als der Chef de la Sûreté Carruthers wie einen guten alten Freund empfing. In Berlin folgte er Carruthers, als dieser sich in einer Vorstadt den Weg aus einem Schlupfwinkel internationaler Gauner freikämpfte. Der Tausendsassa Carruthers, ein grimmiges Lächeln auf den schmalen Lippen, ein stählernes Glitzern in den Augen, verfolgte seine Beute, begleitet vom Professor und geleitet von einem freundlichen Schicksal bis auf Seite 43, als sich die Wirklichkeit wieder meldete.
    Es ist ganz interessant, wenn auch ohne jeglichen Nutzen, über die Rolle zu spekulieren, die der Eigentümer des Buches in der
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