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Der dunkle Geist des Palio (German Edition)

Der dunkle Geist des Palio (German Edition)

Titel: Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
Autoren: Astrid Frank
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beweisen, was er konnte? Durfte er bleiben? Wenn nicht, musste er wohl oder übel auf der Straße übernachten. Nun, zumindest besaß er nichts, was man ihm stehlen konnte.
    »Ray, das ist Mr de Mestre«, sagte der Reverend, sobald Ray neben ihm stand. »Er hat eingewilligt, dich zur Probe zu nehmen. Du kannst vorerst hierbleiben.«
    Ein Lächeln huschte über Rays Gesicht. »Ich danke Ihnen, Sir«, sprudelte es aus ihm hervor. »Ich danke Ihnen.«
    »Danke nicht mir«, antwortete Mr de Mestre, »danke lieber dem Reverend. Er hat sich ganz schön für dich ins Zeug gelegt. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was er gesagt hat, dann bist du so etwas wie ein Fleisch gewordener Engel.« 
    Der Reverend lachte und Ray spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg und seine Wangen rötete. 
    »Auf jeden Fall werde ich mich bemühen, Sie nicht zu enttäuschen«, erwiderte er leise und mit gesenktem Kopf. 
    »Schön, schön«, antwortete Mr de Mestre zerstreut und winkte den Jungen herbei, der kurz zuvor bereits Rays Weg gekreuzt hatte und nun ohne den rotbraunen Hengst auf dem Rückweg zu den Weiden war, um ein weiteres Pferd zu holen und in den Stall zu führen. »Nick, komm doch mal her!«, rief er ihm zu. 
    »Sir?«, sagte Nick, sobald er bei ihnen war. Ray würdigte er dabei keines Blickes, doch dem Reverend nickte er zum Gruß wortlos zu. 
    »Das hier ist …« 
    »Ray, Sir, mein Name ist Ray.«
    »Also, das hier ist Ray. Zeig ihm doch bitte den Schlafboden und nimm ihn anschließend mit in den Stall, um ihm alles zu erklären.« 
    »Aber …« 
    »Ja?«
    »Soll das heißen …«
    »Ray wird Antonys Platz einnehmen. Er arbeitet ab jetzt hier.«
    Nick verzog das Gesicht zu einer Grimasse. 
    »Hast du damit irgendein Problem?«
    »Nein, Sir, natürlich nicht«, erwiderte Nick und wies Ray mit einer knappen Kopfbewegung an, ihm zu folgen.
     
    Ray stieg die schmale Leiter hinauf und stellte seinen zerschlissenen Koffer in der Ecke auf dem Heuboden ab, die der andere ihm wortlos wies. Der Boden war so niedrig, dass er sich bücken musste, wenn er nicht mit dem Kopf gegen einen der vielen Holzbalken stoßen wollte. Auf dem Weg zum Schlafboden hatte er versucht, mit Nick ins Gespräch zu kommen, doch der hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihm zu antworten. Jetzt stand er auf einer der obersten Stufen der Leiter und beobachtete Ray aus zusammengekniffenen Augen. 
    »Was willst du hier?«, fragte er, als sich Ray zu ihm umwandte. 
    »Arbeit«, antwortete Ray. »Was sonst?«
    »Bild dir ja nicht ein, du könntest dich bei Mr de Mestre einschleimen, klar?« Nick funkelte den Neuen wütend an. »Hier im Stall habe ich das Sagen und sonst keiner, klar?«
    Ray zog überrascht die Augenbrauen hoch. 
    »Du tust, was ich dir sage, klar?«
    »Klar«, antwortete Ray und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Keine Bange, ich will hier niemandem was wegnehmen.« 
    »Das kannst du auch gar nicht. So wie du aussiehst, schaffst du es ja nicht mal, einen Futtersack hochzuheben. Geschweige denn, ein Pferd zu reiten.« 
    Ray antwortete nicht, um den anderen nicht weiter zu erzürnen. Es wäre vermessen gewesen zu behaupten, dass er ein guter Reiter war. Denn weder hatte er viel Erfahrung vorzuweisen noch jemals die Gelegenheit gehabt, sich mit anderen zu messen. Aber ganz gewiss gab es nichts auf der Welt, was er lieber tat. 
    Schon als 5-Jähriger hatte er auf dem Pferd seiner Mutter gesessen. Und wenn er sich zurückerinnerte, dann kam es ihm manchmal so vor, als wären die Ausritte auf dem Apfelschimmel die glücklichsten Momente seiner Kindheit gewesen. Mit acht hatte er sich zum ersten Mal allein auf den Weg gemacht. Er hatte Applepie gesattelt und war mit ihr querfeldein geritten. Die Strafpredigt seines Vaters, die er sich nach seiner Rückkehr am Abend anhören durfte, würde er sein Leben lang nicht mehr vergessen. Er hatte nicht daran gedacht, jemandem Bescheid zu sagen, und seine Eltern waren in heller Aufruhr gewesen, weil sie ihn nirgends finden konnten. 
    Als seine Mutter vor vier Jahren gestorben war, hatte Rays Vater Applepie verkauft. Sie konnten es sich nicht leisten, ein Pferd zu ernähren, das nicht gebraucht wurde. Und nach Mums Tod brauchte es niemand mehr. 
    Sich von Applepie zu trennen, war Ray unglaublich schwergefallen. Erst der Verlust des Pferdes schien dem damals 12-Jährigen die Tragweite des Todes seiner Mutter begreiflich zu machen. Tagelang hatte er seinen Vater angefleht,
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