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Der dunkle Geist des Palio (German Edition)

Der dunkle Geist des Palio (German Edition)

Titel: Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
Autoren: Astrid Frank
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jungen Mann hinterher, der einen großrahmigen rotbraunen Hengst mit schwarzer Mähne und Schweif und schwarzen Fesseln an ihm vorbeiführte. Ray lächelte dem anderen freundlich zu – er schien ungefähr in seinem Alter zu sein –, doch der Fremde verzog nicht eine Miene. Vielmehr beeilte er sich nun noch mehr, an Ray vorbeizukommen. 
    Wenn es dem Reverend nicht gelang, Mr de Mestre zu überreden, Ray als Stallburschen aufzunehmen, dann würde er sich Gedanken darüber machen müssen, was weiter mit ihm geschehen sollte. Vielleicht konnte er sein Glück auf den Goldfeldern suchen? 
    »… guter Junge … wird fleißig arbeiten.« Der Wind trug die Wortfetzen zu Ray hinüber. Aber er wusste ohnehin, was der Reverend sagte: dass Ray kein Zuhause mehr hatte. Dass nach dem Tod der Mutter vor vielen Jahren nun auch der Vater verstorben war. Dass die Tante in Melbourne nur über Platz für Rays kleine Schwester Emily verfügte. Dass Ray nicht wusste, wo er hinsollte, wenn Mr de Mestre ihn nicht bei sich aufnahm … 
    Ray fühlte sich wie ein Bittsteller. Dabei wollte er doch nur eine Arbeit, die ihm ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit am Tag verschaffte. Er wandte sich ab, als er merkte, dass Mr de Mestre ihn musterte. Die Blicke des Mannes waren ihm unangenehm. Als fürchtete er, einer Prüfung nicht standhalten zu können. 
    Mr de Mestre betrachtete den jungen Mann eingehend, den der Reverend ihm in den höchsten Tönen anpries. Und was er sah, gefiel ihm nicht. Der Junge war schmächtig, seine Kleider schlackerten um seinen unterernährten Körper. Und war er für einen 16-Jährigen nicht viel zu klein? Das Gesicht wirkte blass unter den lockigen dunklen Haaren und die ebenfalls dunklen Augen in dem ausgemergelten Gesicht mit den viel zu deutlich hervortretenden Wangenknochen erschienen ihm wie große tiefe Teiche. 
    »Was ich suche, ist ein Stallbursche«, sagte er. »Jemand, der kräftig anpacken kann und körperliche Arbeit nicht scheut.«
    »Ray kann arbeiten«, entgegnete der Reverend. »Und er hat ein Händchen für Pferde.«
    Mr de Mestre schwieg, während seine Augen auf Ray ruhten. Er war in Nöten, seit zwei seiner Stallburschen gemeinsam zu den Goldminen abgewandert waren, in der Hoffnung auf schnellen Reichtum. Doch er bezweifelte, dass dieser hagere Kerl genügend Kraft hatte, den ganzen Tag lang Ställe auszumisten, Schubkarren zum Misthaufen zu fahren und dort zu entleeren, die Stallgasse zu säubern, die Pferde zu striegeln, ihre Hufe auszukratzen und sie auf die Weide zu bringen, Heu für die Pferde heranzuschaffen, die Weidezäune auszubessern und was sonst noch alles anfiel. 
    »Geben Sie ihm eine Chance«, sprach der Reverend weiter. »Ich versichere Ihnen, dass Ray Sie nicht enttäuscht.« Er seufzte. »Mr de Mestre. Alles, was Ray braucht, ist ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Einen Ort, an den er gehört. Der Junge hat alles verloren, was er zu verlieren hatte. Seine Mutter, seinen Vater, seine Schwester … sein Zuhause. Er hat nichts und niemanden mehr. Was haben Sie schon zu verlieren? Für einen Teller Suppe am Tag und einen Platz im Stroh bekommen Sie eine Arbeitskraft!« 
    Mr de Mestre schwieg immer noch. 
    »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, fuhr Reverend Smith fort. »Nehmen Sie ihn für 14 Tage bei sich auf. Und wenn Sie danach immer noch glauben, er eigne sich nicht als Stallbursche, komme ich zurück und hole ihn ab.« 
    »Und wohin bringen Sie ihn dann?«
    Der Reverend zuckte mit den Schultern und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. 
    Mr de Mestre strich sich die Haare aus dem Gesicht. Die Vorstellung, dass der Junge niemanden hatte, an den er sich wenden konnte, gefiel ihm nicht. Mit 16 war man vielleicht kein Kind mehr, aber man war weiß Gott auch noch nicht alt genug, um sich mutterseelenallein durchs Leben zu schlagen. Jedenfalls sah er das so. »Also gut«, sagte er schließlich. »14 Tage. Danach sehen wir weiter.« 
    Der Reverend nickte und streckte Etienne de Mestre die Hand entgegen. »Abgemacht«, sagte er. »In 14 Tagen komme ich wieder.« 
    Mr de Mestre grunzte mürrisch, während er die Vereinbarung mit einem Handschlag besiegelte. 
    Der Reverend wandte sich zu Ray um und winkte ihn herbei. 
    Ray hob seinen Koffer hoch und beeilte sich, zu den zwei Männern hinüberzugehen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Wie hatte sich Mr de Mestre entschieden? Würde er ihm eine Chance geben zu
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