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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss
Autoren: John Hart
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sie.
    Er rief jede Woche an. Sonntagsabends. Um acht Uhr. Das Telefon klingelte, und seine Nummer leuchtete auf dem Display. Jede Woche rief er an. Und jede Woche ließ ich es klingeln. Manchmal hinterließ er eine Nachricht. Manchmal nicht. Einmal bekamen wir einen Brief. Er enthielt eine Kopie seiner Scheidungsurkunde und eine Kopie seines neuen Testaments. Jamie behielt seinen Zehn-Prozent-Anteil an der Farm, aber die Kontrollmajorität hinterließ er Grace und mir. Er wollte, dass wir die Zukunft der Farm sicherten.
    Wir.
    Seine Kinder.
    Grace und ich sprachen regelmäßig miteinander, und mit der Zeit wurde es immer besser. Unsere Beziehung fühlte sich allmählich normal an. Wir luden sie ein, uns zu besuchen, aber sie lehnte jedesmal ab. »Eines Tages«, sagte sie, und ich verstand sie. Sie tastete sich blind auf einem neuen Weg vor. Das erforderte Konzentration. Einmal sprach sie von unserem Vater. »Er leidet, Adam.«
    »Nicht«, sagte ich, und sie fing nie wieder davon an.
    Dolf kam zweimal, aber er hatte nichts übrig für die Stadt. Wir gingen essen, zogen durch einige Bars, erzählten ein paar Geschichten. Er sah besser aus, als ich erwartet hatte, doch er wollte nicht darüber sprechen, was die Ärzte sagten. »Ärzte«, sagte er nur und wechselte das Thema. Einmal fragte ich ihn, warum er den Mord an Danny auf sich genommen habe. Seine Antwort überraschte mich nicht.
    »Dein Dad bekam einen Anfall, als ich ihm erzählte, Danny habe Grace verprügelt. In meinem ganzen Leben habe ich ihn nie so wütend gesehen. Gleich danach verschwand Danny. Ich dachte, dass dein Vater ihn umgebracht hatte.« Er zuckte die Achseln und schaute einem hübschen Mädchen auf dem Gehweg hinterher. »Ich sterbe ja sowieso.«
    Ich musste oft daran denken: an die Kraft ihrer Freundschaft. Fünfzig Jahre und mehr. Ein ganzes Leben.
    Sein Tod hätte mich fast erschlagen.
    Ich sah es nicht kommen, und ich war nicht da, als es passierte. So fuhr ich wiederum zu einer Beerdigung nach Rowan County, und mein Vater sagte, Dolf sei mit der Sonne im Gesicht gestorben. Dann hob er die Arme und bat mich, ihm zu verzeihen, aber ich konnte nicht sprechen. Ich weinte wie ein Kind.
    Als ich nach New York zurückkam, war ich nicht mehr derselbe. Tagelang nicht. Wochenlang nicht. Dreimal träumte ich von dem weißen Hirsch, und jedesmal war der Traum machtvoller als zuvor. Sein Geweih war glatt wie Knochen, und ein goldenes Licht leuchtete zwischen den Stangen hervor. Er stand am Waldrand und wartete darauf, dass ich ihm folgte, aber ich tat es nie. Was er mir zeigen wollte, würde ich nicht ertragen können, und ich war voller Scheu vor dem, was sich hinter den harten, schwarzen Bäumen verbarg.
    Ich versuchte, Robin diesen Traum zu erklären: seine Macht und das Gefühl von Ehrfurcht und Angst, das mich fast erstickte, wenn ich im Dunkeln aus dem Schlaf schrak. Dolf versuche mir etwas zu sagen, erklärte ich, oder vielleicht meine Mutter, aber Robin tat das achselzuckend ab. Sie deckte mich zu und meinte, es bedeute nur, dass das Gute in der Welt noch immer unterwegs sei. Schlicht und einfach. Ich bemühte mich, so gut ich konnte, ihr zu glauben, doch in mir klaffte ein Loch. Also sagte sie es noch einmal, mit der flüsternden Stimme, die ich liebte: Das Gute ist immer noch unterwegs.
    Aber dieser Traum bedeutete etwas anderes. Da war etwas hinter diesen Bäumen, ein geheimer Ort, und ich glaubte zu wissen, was ich dort finden würde.
    Als meine Mutter sich umbrachte, brachte sie auch meine Kindheit um. Sie nahm den Zauber mit. Das war zu viel, als dass ich es hätte verzeihen können, und in Abwesenheit der Vergebung füllte mich der Zorn von zwanzig Jahren aus, und erst jetzt begann ich alles zu verstehen. Sie hatte getan, was sie getan hatte, aber ihre Sünde war eine Sünde der Schwäche wie die meines Vaters, und auch wenn sein Frevel gewaltige Auswirkungen gehabt hatte, war die Sünde selbst eine Sünde der menschlichen Unzulänglichkeit gewesen. Das hatte Dolf mir sagen wollen, und jetzt wusste ich, dass er nicht nur von meinem Vater gesprochen hatte, sondern auch von mir. Mit dem Versagen meines Vaters hatte der Zorn begonnen und die Glasscherbe angefangen, sich zu drehen, und jetzt erschien es mir von Tag zu Tag kleiner. Und so hielt ich meine Frau im Arm und sagte mir, wenn der Traum das nächste Mal käme, würde ich dem weißen Leuchten folgen. Ich würde den dunklen Pfad betreten und mich dem Anblick stellen, den ich so sehr
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