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Der Duft von Tee

Der Duft von Tee

Titel: Der Duft von Tee
Autoren: Hannah Tunnicliffe
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sie bleibt mir im Hals stecken. Wir starren uns ein paar Sekunden an, und ich frage mich, ob ich nicht besser wieder gehen sollte.
    »Klar«, murmele ich.
    Sie reicht mir einen Plastikhocker, auf den ich mich setzen kann, während die Wahrsagerin mir ins Gesicht sieht. Ihr Haar ist schwarz gefärbt und hat nahe der Kopfhaut einen silbernen Ansatz. Sie mustert mich, als würde sie nach Makeln suchen. Ihr Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Nervös blicke ich auf ihre Füße hinunter. Auf ihre Sandalen mit den goldenen Riemchen sind schlampig falsche Gucci-Logos gestickt. Sie berührt mit der Hand mein Kinn. Ihre Fingerspitzen fühlen sich ledern auf meiner Haut an.
    »Was ist das für eine Art von Wahrsagerei?«
    » Sang Mien «, antwortet meine Übersetzerin. »Gesichterlesen«.
    Die Wahrsagerin greift nach meiner Schulter, um mich näher zu sich heranzuziehen. Ich spüre, wie meine Wangen erröten, als könnte sie meine Gedanken lesen, meine sehnlichsten Wünsche und meinen schlimmsten Kummer.
    »Oh«, sage ich.
    »Okay, sie ist jetzt so weit«, sagt die junge Frau gähnend. Sie zieht ihren Hocker über die Fliesen zu uns herüber. Ihre Tante bellt einen Satz, und sie übersetzt.
    »Ihr Gesicht ist sehr quadratisch«, beginnt sie.
    Ich nicke. Man könnte mein Gesicht beschönigend als »breit« bezeichnen, das weiß ich selbst.
    »Das bedeutet, dass Sie praktisch veranlagt sind. Die Form Ihrer Augen sagt, dass Sie nicht so optimistisch sind, aber Sie haben … Intuition, ein bisschen Kreativität. Ein kräftiges Kinn heißt, Sie besitzen Entschlossenheit und können dickköpfig sein. Aber Sie sind großzügig …«
    Es folgt eine kurze Pause. Die Wahrsagerin starrt ihre Nichte durchdringend an, die auf der Suche nach dem passenden Ausdruck in die Luft guckt.
    »Ich kenne das richtige Wort nicht. So ähnlich wie nichts tun, das sich zu sehr vom Normalen abhebt, niemandem Ärger machen. Verstehen Sie?«
    Ich nicke. Angepasst, denke ich. Damit hat sie auch recht. Das bin ich, im Gegensatz zu Mama.
    Die Inspektion geht weiter. Sie sagt mir, dass meine Ohren darauf schließen lassen, dass ich schnell lerne, aber zur Schüchternheit neige. Dann starrt sie meine Nase an. Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Meine Hakennase sorgte schon zu Schulzeiten für Spott und Gelächter.
    »Ihre Nase zeigt, dass Sie unabhängig sind, Ihr eigener Boss sein können.«
    Das hätte mal jemand den Mädchen in der Schule sagen sollen, die mich damit aufgezogen haben.
    »Die Tante sagt, dass Ihre Nasenform verrät, dass Sie mit Ihrer Arbeit den Leuten helfen.«
    »Aha«. Ich bin mir nicht sicher, ob mein derzeitiger Beruf, wenn man denn überhaupt von einem Beruf sprechen kann, darin besteht, Menschen zu helfen. Als »mitausgereister Ehepartner« lässt er sich wohl am ehesten beschreiben. Immer dem nach, der die Brötchen verdient. Was mich an den Typen erinnert, der im Zoo hinter den Elefanten hertrottet. Und man kann sich ja denken, was der den ganzen Tag so macht … Pete war immer der Ehrgeizigere von uns beiden, also sind wir dorthin gezogen, wo er gebraucht wurde – wo die Kasinos ihn gebraucht haben. Vor diesem Umzug habe ich als Kellnerin in Cafés, Pubs, Restaurants und Hotelbars gearbeitet. Gerade genug, um Arbeitslosigkeit und Langeweile zu entgehen, aber auch nichts Weltbewegendes. Im weitesten Sinne ist das wohl auch »den Leuten helfen«. Man nennt es »Dienstleistungsbranche«, aber das ist nicht mit den Dienstleistungen von Ärzten und Feuerwehrleuten und Freiwilligen in Afrika zu vergleichen. Eigentlich bin ich die geborene Kellnerin, nicht nur weil ich Essen liebe, sondern weil ich schon früh gelernt habe, mich um die Bedürfnisse anderer zu kümmern. Das liegt mir im Blut. Oder in der Nase, wie es scheint.
    Ich setze mich auf dem Hocker zurecht, weil mir mein Hintern langsam wehtut, als die Wahrsagerin sich vorbeugt und nach einer meiner Hände greift. Sie studiert konzentriert die Linien in meiner Handfläche. Ihr Atem ist feucht und warm auf meiner Haut.
    »Die Tante sagt, es gibt jemanden, den Sie lieben. Ich nehme an, das ist Ihr Ehemann, richtig? Nur einen, sagt sie.«
    Ich nicke erneut. Das war nicht schwer zu erraten; wir sind lange genug verheiratet, dass der rotgoldene Ehering an der linken Hand praktisch mit meinem Finger verwachsen ist. Die Haut darunter ist milchig weiß und eingedellt.
    »Ein guter Mann, aber ich sehe auch Traurigkeit. Bei ihm und bei Ihnen. Sie tragen
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