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Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya
Autoren: Sarah Benedict
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hat gesagt, dass er sich auch für Land im Süden von Savaii interessiert, also hier. Lass es dir mal durch den Kopf gehen.«
     
    Ili ging über die Plantage hinaus ins Innere der Insel. Sie ging schnell, viel zu schnell. Der Weg zum Mount Mafane war verschlungen, und die Mangroven und Brotfruchtbäume standen manchmal so dicht, dass ein Ortsfremder sich leicht verlaufen konnte. Sie jedoch kannte hier jeden Ast. Schon als kleines Kind war sie den Pfad entlangspaziert, ebenso allein wie jetzt. In Samoas Wäldern lebten keine gefährlichen Tiere, weder Raubkatzen noch Giftschlangen, und wenn sich im Gebüsch manchmal die Zweige bogen oder ferne Schritte zu hören waren, erkannte sie dahinter sofort ein scheues Wildschwein, einen Flughund oder Wildhühner. Normalerweise wanderte sie den Weg bis zum Ende, ganz langsam, auf jeden Schritt und jede Pflanze achtend. Heute jedoch nicht. Sie war erregt. Achtlos stieß sie Äste beiseite und trampelte über Farne hinweg. Ihr Herz raste. Sie nahm es dem alten Ben übel, was er zuletzt gesagt hatte. Nur, weil er selbst aufgab, hatte er kein Recht, andere zum Aufgeben zu verleiten! Und Ane auch nicht. Ja, wenn sie wenigstens aus ehrlicher Sorge gesprochen hätte …

    Ein Stich durchfuhr ihre Brust, gleich danach ein zweiter. Ili blieb stehen und seufzte. Wenn ihr Herz jetzt aufhörte zu schlagen, wäre es ein schöner Tod an einem vertrauten Ort. Die Südseesonne stand an einem klaren Himmel, und das Konzert des Waldes erfüllte den Raum um sie herum. Sie war reich, nicht an Geld, sondern an Schätzen der Natur. Unter ihr lag das grüne Land, so weit das Auge reichte. Ein Viertel des Inselsüdens gehörte ihr, bedeckt von Tropenwald, zerklüfteten grünen Hügeln, engen Tälern mit Bächen und von Vögeln besetzten Felsen. Die Papayaplantage nahm sich dagegen nur wie ein Klecks aus, kaum ein Zehntel des Besitzes, und das Haus und der bunte Garten waren von hier oben nur Punkte. Dahinter breitete sich der Ozean aus, eine unendliche, milchig blaue, sich wölbende Fläche.
    Die Erschöpfung drückte Ili zu Boden. Sie ließ sich zwischen Halmen und Farnen nieder, roch die Feuchtigkeit und schloss die Augen. Ein Vogel flatterte vorbei, vielleicht einer von denen, die sie immer fütterte.
    Sie war einundneunzig Jahre alt, hatte eine große Seuche, zwei Weltkriege und drei Währungen überlebt, Schikanen und Wirtschaftskrisen durchgestanden, furchtbare Verluste erlitten und menschliche Enttäuschungen eingesteckt. Sie war geliebt worden und hatte geliebt – ihre Mutter, Senji und jeden einzelnen Tag ihres Lebens das Land, das Papayaland. Aber einmal musste Schluss sein. Einmal musste die Nacht kommen.
    Moana wird sich freuen, dachte sie.
    Und Ane? Ane vielleicht auch.
    Aber die Nacht ließ auf sich warten. Der Schmerz in der Brust verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Ili lag noch einen Moment mit geschlossenen Augen auf dem Boden, bevor sie sich langsam aufrichtete. Alles war wie zuvor: die Sonne, der Wald, die Weite, das Leben … Die
Natur überging einzelne Schicksale. Was hätte sie auch sonst tun sollen?
    Ili atmete durch. An einem tief hängenden Ast zog sie sich wieder auf die Beine. Sie klopfte ihr einteiliges, rot und weiß gemustertes Tuch von den Schultern bis zu den Knöcheln ab und schaute wieder hinunter auf den Papaya-Palast, wie er, halb verborgen unter Palmen, in der Sonne ruhte.
    Solange ich atme, werde ich hier bleiben, versprach sie sich. Und der Tag, an dem ich dich verlasse, wird mein letzter sein.
    Diese Aussicht gab ihr die Stärke weiterzuleben.
    Als sie ein paar Schritte zurückgegangen war, hörte sie das Geräusch einer Propellermaschine und blickte auf den Himmel über dem Meer. Das zweimotorige Wasserflugzeug bereitete soeben den Anflug auf die Küste der Nachbarinsel Upolu vor.
    Zehn Uhr, dachte Ili. Noch nicht Mittag, und man hatte sie schon zweimal aufgefordert, das Land herzugeben. Und einmal ihr Leben, was auf das Gleiche hinauskam.
    Was konnte ein solcher Tag wohl noch an Überraschungen bringen!

2
    Ein Blick auf das Ufer genügte, und Evelyn kam es vor, als sei sie von der Hölle direkt ins Paradies geraten. Als sie vor neunundzwanzig Stunden in die Maschine am Frankfurter Flughafen gestiegen war, hatte sie den Rest dessen zurückgelassen, was ihr noch etwas bedeutete, und der kleine Koffer, den ihr ein Junge nun abnahm und sorgsam in das Boot legte, war alles, was sie mit sich führte.

    Das Wasserflugzeug schaukelte auf den sanften
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