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Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya
Autoren: Sarah Benedict
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dachte kurz an ihre Mutter und an ihren Vater, den sie nie kennen gelernt hatte. Zu behaupten, sie bekomme beim Anblick dieser Orte einen Stich in der Brust, wäre übertrieben, aber ein Gefühl von Beklommenheit erfasste sie doch. Sie hatte nie ganz verwunden, weder eine Erinnerung noch ein Bild von ihrem Vater zu haben. Sie wusste alles über sein Leben, sogar Kleinigkeiten, denn ihre Mutter war, wenn sie von ihm angefangen hatte, aus dem Erzählen kaum noch herausgekommen. Doch von einem Dritten eine Darstellung und eine Geschichte überliefert zu bekommen, ist nicht dasselbe, wie jemanden mit eigenen Augen vor sich zu sehen, und sei es in einer verschwommenen Erinnerung an längst vergangene Zeiten. So hatte sich Ilis Bild ihres Vaters im Laufe der Jahrzehnte mehrfach verändert – in jeder Hinsicht. In ihrer Jugend sah sie ihn als Helden, später, nach dem Tod ihrer Mutter, entwickelte sie eine gewisse Skepsis ihm gegenüber, fand ihn ungeschickt, ja, feige, und heute kam es ihr vor, als sei er ein trauriger Mensch gewesen, der einfach nicht in seine Zeit passte. Im gleichen Maße, wie sich ihr Charakterbild von ihm veränderte, wandelte sich auch ihre physische Vorstellung, weg vom strahlenden Ritter, hin zum melancholischen, gedankenverlorenen Typ. Er war einfach keine feste Größe in ihrem Leben, und das war unbefriedigend, denn obwohl er ihr Leben mehr noch als ihre Mutter bestimmt
hatte, war er aufgrund seiner für Ili schattenhaften Existenz nie ein wirklicher Teil davon geworden.
    Während des Fußmarsches nach Salelologa und wieder zurück überlegte Ili sich bereits, was sonst noch im Haus oder im Garten zu tun sein könnte. Sie legte fest, wann sie den Holzboden fegen, das kleine Fischnetz in die Palauli Bay auswerfen oder den Erdofen reinigen würde. Wenn es einmal nichts mehr zu tun gab, schnitt sie Blumen und gab ihren Räumen damit neue Farbe.
    Aber für die Plantage war immer Zeit. Sie redete sich zwar gerne ein, dass es Pflichtbewusstsein war, das sie zwischen die Papayas trieb, selbst wenn es nichts zu sehen gab. Tatsächlich jedoch bewegte sie sich gerne zwischen ihren Bäumen. So wenig sie die Früchte leiden konnte, so sehr liebte sie die Bäume an sich, die dünnen, hellgrünen Stämme, die Blätter, die in drei bis vier Metern Höhe wie überdimensionale Eichenblätter sternförmig vom Stamm wegstrebten, und die grünlich weißen Blüten. Die Gestalt und das Blattwerk der Papayas ließen die Sonnenstrahlen kaum durch und tauchten den Boden in ein diffuses, beinahe unwirkliches Licht. Während in den Wäldern um die Plantage herum turbulentes Treiben herrschte, blieben die Papayas stumm. Nur wer genauer hinsah, konnte auch hier vereinzelt Loris in den Baumkronen entdecken und Geckos, wenn sie die Stämme hinaufflitzten. Ansonsten war die Plantage eine Oase der Ruhe.
     
    An diesem Vormittag unterbrach die Hupe von Ben Opalanis Lieferwagen die Stille. Der alte Ben – jeder nannte ihn so, sogar Ili, die zwanzig Jahre älter war als er – versorgte die Inselbewohner seit einem halben Jahrhundert mit allen Lebensmitteln, die entweder in den Wäldern nicht zu finden oder die zu schwer waren, um sie lange Strecken von den Läden in die Häuser zu tragen. Heutzutage, wo fast
jede Familie ein Pferd mit Wagen besaß und manche gar ein Auto, gingen seine Geschäfte schlechter, aber Ili, die zwei Meilen vom nächsten Dorf entfernt lebte, war zu einer seiner besten Kundinnen geworden.
    »Ben, du bist früh dran heute.« Sie öffnete ihm die Fahrertür, weil sie wusste, dass sie von innen klemmte, schon seit Jahren.
    Er wuchtete seinen massigen Körper aus dem Wagen und streckte sich. Unter dem bunten Hemd wölbte sich sein Bauch wie eine Melone. »Ich habe in letzter Zeit wenig zu tun«, sagte er. »Zu wenig.«
    Ili nickte verständig. Die meisten der älteren Inselbewohner besannen sich wieder auf frühere Zeiten und versorgten sich mehr und mehr von den Früchten und Tieren des Waldes, die nichts kosteten, und kauften so wenige Lebensmittel wie möglich hinzu. Die jungen Insulaner wiederum, die wenig Lust auf Jagd und Ernte hatten, gingen entweder in die Hauptstadt Apia oder verließen Samoa.
    Ili beobachtete, wie Ben die Kisten mit Gemüse eine nach der anderen in die Küche trug und dabei sein Gesicht unter den Anstrengungen zu einer Fratze verzog. Durch seine Nase, die noch viel platter war als die der meisten anderen Samoaner, schnaufte er kräftig und tief. Obwohl er wegen seiner
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