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Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya
Autoren: Sarah Benedict
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genoss es, wenn alljährlich ab Mai Passatwinde durch die Blätter des bergigen Tropenwaldes rauschten oder wenn im Gebüsch am Haus eine Zikade sang, sie genoss das weite Feld des Pazifischen Ozeans, die Fontänen vorbeiziehender Wale, den Duft brennender Kokosschalen im Erdofen und das Gelächter junger Leute, wenn sie, bunte Tücher um die Hüften, vom Baden kamen. Mondlicht, wenn es schräg durch die Blätter der Papayabäume fiel. Bienengesumme. Das Vorbeihuschen eines neugierigen Geckos. Von der Veranda aus in den Sommerregen zu lauschen. Das alles bedeutete wahres Glück für sie.
    Sie kannte nur Savaii, die größte der vier Inseln Samoas,
ein verlorener Punkt von vierzig mal sechzig Kilometern im unendlichen Pazifik, aber sie war sich sicher, dass es keinen zweiten Platz wie diesen auf der Welt gab. Nirgendwo sonst war die Unveränderlichkeit der Natur stärker zu spüren als hier – unveränderlich im Laufe eines Menschenlebens.
    Ein samoanisches Sprichwort besagte, dass ein Mensch mehr Wurzeln hat als ein Baum. So war es. Mit vielen Orten auf der Insel verband sie eine spezielle Erinnerung, jede einzelne wie eine Wurzel, die ihr Kraft gab: die mächtige grüne Kappe des Mafane, auf den ihre Mutter sie als Mädchen hinaufgeführt hatte, die heiteren Feste in Palauli, dem Dorf ihrer Vorfahren, wo sie zum ersten Mal tanzen durfte, oder die kantigen Lavafelder im Norden, über die sie barfuß mit Senji spazieren gegangen war. Aber noch wichtiger als diese einzelnen, lebendigen Erinnerungen waren die Farben, Gerüche und Geräusche, die so alltäglich waren, dass selbst sie sie manchmal nicht mehr wahrnahm, und die doch unbewusst dieses starke Band zwischen ihr und der Insel bildeten. Da war die riesige rote Blüte des Flamboyantstrauches, die oft ganz unerwartet aufleuchtete. Der Anblick der gewaltigen Wolkentürme, die im Abendrot glühten, während von ferne die Gesänge der Männer durch den Wald hallten. Die kalten Bäche aus den Bergen, die über Felsentreppen hinab zur Küste plätscherten. Der schmale Pfad zum Mount Mafane hinauf, überdacht von den gewaltigen Riesenfeigen, den Muskatbäumen und grazilen Myrtazeen. Und natürlich gehörte auch ihr hölzernes Haus an der Palauli Bay dazu. Es war viel zu groß für die drei Frauen, die es bewohnten, es war ein Palast, auch wenn Ili dieses Wort ungern benutzte, das die Samoaner ihm gegeben hatten: faletele papaia , der Papaya-Palast. Hier war der Ort ihrer Kindheit, ihrer Ehe, ihrer guten und schlechten Tage seit mehr als neunzig Jahren.

    Wenn Ili ihr Leben auf diese Weise betrachtete, fand sie, dass sie es nicht schlecht getroffen hatte. Gewiss, zu oft hatte sie kämpfen müssen, sogar um die selbstverständlichsten Dinge wie ihren Namen. Manches war ihr allzu früh abhanden gekommen, anderes immer versagt geblieben, vor allem Kinder, die sie gerne gehabt hätte. Viel, viel zu lange schon fehlte ihr ein Mensch, dem sie eine Stütze hätte sein können, was wiederum ihr selbst eine Stütze gewesen wäre und ihrem Leben eine Richtung gegeben hätte. Aber wenn sie wie jeden Tag die hundert Schritte zum Sand der Palauli Bay machte, das Meer sanft an die Bucht branden sah und die Südseesonne auf ihrer Haut spürte, wenn sie sich dann anschließend hinter das Haus setzte, die Vögel aus dem nahen Tropenwald lockte und ihnen beim Schnäbeln zusah, dann wusste sie, dass es ungerecht wäre, mit ihrem Leben zu hadern.
    Trotzdem kam es vor, dass sie dem eigenen Schicksal Fragen stellte: Was wäre geschehen, wenn meine Großeltern mich damals nach Deutschland geholt hätten? Oder wenn es Moana nicht gäbe?
    Sie wurde von Moana seit achtzig Jahren gehasst und hasste sie seit mindestens sechzig Jahren. Ihr gegenseitiger Hass hatte schleichend begonnen, hatte Schritt für Schritt genommen und sich in jener schrecklichen Oktobernacht 1942 vollendet. Seither sprachen sie kein einziges Wort mehr miteinander.
    Dennoch lebten sie im gleichen Haus.
    Plötzlich schreckte die bunte Vogelschar auf und flüchtete sich auf die nächsten Äste. Ili wusste sofort, was das bedeutete.
    »Talofa , Ane«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
    »Ich dachte, dein Gehör ist nicht mehr so gut.« Ane gab ihr einen Kuss auf die Wange, und Ili spürte den Abdruck des frisch aufgelegten Lippenstiftes. »Talofa , Großtante.«

    Im Grunde war sie nicht ihre Großtante. »Du hast die Vögel aufgeschreckt.«
    »Die kommen wieder.«
    Nicht, solange Ane da war. Es war seltsam, dachte Ili, dass die
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