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Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya
Autoren: Sarah Benedict
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klingeln konnte und außerdem nicht die amerikanische Nationalhymne als Rufton hatte.
    Der Mann an ihrem Nachbartisch zog das Handy mit ruhiger Hand aus der Gürteltasche seiner Jeans und sagte: »Ray Kettner. Hallo, George, Sie sind schwer zu verstehen,
Philadelphia ist weit weg. Ja, legen Sie los.« Er hatte eine dunkle, entschlossene Stimme, die gut zu seinem leicht cowboyhaften Aussehen passte.
    Schweigsam hörte er zu, was sein Gesprächspartner zu erzählen hatte, gab keinen Laut von sich, wippte aufgeregt mit den Beinen und trank in fast exakten Abständen von einigen Sekunden aus der Kaffeetasse, die er jedesmal etwas zu laut aufsetzte. Sobald er eine Hand frei hatte, fuhr er sich durch die kurzen Haare.
    Auf Evelyn, die nur einen Schritt von ihm entfernt saß, wirkte er wie das männliche Pendant zu ihrem eigenen Zustand.
    Als der Kellner kam, nickte sie ihm dankbar zu. Nacheinander platzierte er die weiße Wedgwood-Tasse, die Zuckerdose und das Silberkännchen vor ihr, in einer Weise, als sei eine andere Formation des Geschirrs undenkbar. Dann fügte er noch einen kleinen Teller mit einer Hand voll Biskuits hinzu. »Eine Empfehlung des Hauses.«
    Sie wartete, bis er gegangen war. Die Biskuits ignorierend, griff sie sofort nach dem Tee und schenkte sich eilig ein. Sie führte die randvolle Tasse mit beiden Händen zum Mund und schluckte den heißen, dampfenden Inhalt hinunter.
    Endlich, war das Erste, das sie dachte, obwohl es noch einen Moment dauern würde, bis es ihr spürbar besser ginge. Der Rum kam nur schwach zur Geltung; offenbar hatte der Kellner sich für eine sparsame Dosierung entschieden.
    Evelyn ärgerte sich. Sie ärgerte sich über den Tee, den Kellner und über sich selbst. Konnte sie nicht einfach ihren Aufenthalt in diesem Südseeparadies genießen? Konnte sie – und dabei fielen ihr die Beschimpfungen ihrer Schwiegermutter wieder ein –, konnte sie sich nicht einfach zusammenreißen ? Doch wie oft hatte sie das schon versucht!
Und war immer gescheitert. Sie hatte von Schmerzpatienten gehört, die sich narkotisieren ließen, bis sie ihren Körper nicht mehr spürten, so als sei er ein Feind, den man loswerden müsse. Manche von ihnen hassten ihren Körper. So ähnlich wie jenen kranken Menschen erging es ihr, nur dass sie nicht ihren Körper hasste, sondern ihre Gedanken und Gefühle. Sie ertrug sie nicht. Sie ertrug nicht, dass sie immer nur an eines denken konnte, an jedem Tag, zu beinahe jeder Stunde. Sie konnte dem Unerträglichen nicht entgehen, niemals, es war immer präsent – es war jetzt präsent.
    »Oh, mein Gott«, flüsterte sie vor sich hin und umkrampfte die Armlehnen des Sessels. Sie lehnte sich zurück und japste nach Luft. Rasch wollte sie sich einen weiteren Tee einschenken, doch ihre Hände zitterten so stark, dass der Mund des Kännchens hin und her wackelte wie ein Seismograph. Selbst als sie beide Hände zu Hilfe nahm, wurde es nicht besser.
    Schließlich war es ihr egal. Sie goss sich den Tee ein, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ein guter Teil auf die Untertasse und sogar das Tischtuch tropfte, und trank die Tasse in einem Zug leer. Es half nichts. Nicht einmal das half ihr noch. Gegen die Erinnerung war man machtlos.
    Wie von ferne, wie aus einem Traum mit gebremster Geschwindigkeit, hallte die Stimme ihres Tischnachbarn heran.
    »Ich weiß, dass diese Erhöhung nicht geplant war, George. Hier haben sich neue Umstände ergeben. Ich habe jetzt ein geeignetes Areal gefunden. Sogar ein größeres als erwartet. Deswegen brauche ich die Erhöhung. Ja. Ja, natürlich gab es in der Vergangenheit Probleme, aber doch keine großen, und bisher hat die Bank ihr Geld noch immer … Das ist mir doch klar, George, und ich würde Sie
doch nicht um … Okay, vielen Dank. Ab morgen zur Verfügung? Danke nochmals. Wiederhören.«
    Und mit einer Sekunde Verzögerung, die Evelyn wie eine Stunde vorkam, sagte er: »Scheißkerl.«
    Die Welt drehte sich. Evelyns Kopf wackelte. Die Tränen und die Übelkeit stiegen in ihr hoch. Dann die Wut. Die Wut auf alle, die Schuld hatten. Die Wut auf sich selbst.
    »Madam?«
    Jemand rüttelte sie.
    »Madam? Geht es Ihnen nicht gut?«
    Als sie Ray Kettner wahrnahm, kniete er neben dem Sessel und befühlte mit seiner schmirgelrauen Hand ihre Stirn.
    »Sie sind ganz nass. Sieht aus, als hätten Sie einen Anfall gehabt. Sind Sie gegen irgendetwas allergisch? Sind Sie Diabetikerin?«
    Sie lächelte kurz. Seine besorgte Stimme tat ihr
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