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Der dritte Berg

Titel: Der dritte Berg
Autoren: J. F. Dam
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Welcher ist das gewesen? Es bleibt keine Zeit, dem nachzusinnen. Die Egel verfolgen sie. Sie reagieren auf die Geräusche, die Panik; sie kleben an ihnen, springen von Blättern und Blüten auf sie auf. Die Männer rennen durch das Dickicht hinab, schon lange gibt es keinen Pfad mehr, sie reißen sich die Tiere von den Händen, von den Unterschenkeln, vom Hals, ja selbst aus dem Gesicht und von den Hoden. Und als sie erschöpft unten ankommen, wogt ihnen der einstmals grüne Wald entgegen, lustvoll und durstig. Die dunklen Legionen dort oben sind ungeheure, schwarze Armeen hier unten.
    Die Träger sind nicht zu sehen. Auch nicht der Informant, der schon lange außer Hörweite sein muss, er reagiert nicht auf Rufe. Ist das ein heiliger Mensch?, denkt Fust. Die Inder werden ihn wohl für einen solchen halten. Kann er also ihren Tod wollen? Doch kann das Heilige, so begreift er, im strengen Fall auch Vergeltung heißen und Strafmaße bestimmen.
    Während Christian Fust weiterrennt, einfach immer weiter, sieht er Maggies Gesicht vor sich, auf diesem Foto aus London, das er so liebt, und die würdevolle Miene, mit der sie in Wien durch die Stadt gezogen ist, es war, als bewege sie sich in kleinen Wellenbewegungen … und warum, am Ende, am Ende, warum dieser Verrat?
    Sie stürmen jetzt an einem kleinen Rinnsal vorwärts. Fust kommt schließlich die Warnung der alten Berichte in den Sinn: niemals nach unten, immer nach oben flüchten, wo es weniger Vegetation und Egel gibt! Doch dafür ist es bereits zu spät. Sie stoßen auf einen der Träger. Der weiß um einen Ausweg. Ein Stück weiter vorne gebe es einen kleinen Fluss, schreit er krächzend, er habe ihn gehört, er sei sicher. Die Rettung, die Solidarität der Todgeweihten. Sie rennen wieder, reißen sich die Kleider vom Leib, um besser an die Egel herankommen zu können. Sie tragen schwarze, rasch anschwellende Zungen tausendfach mit sich herum. Die Luft ist milchig und dick. Sie verlieren die Orientierung. Auf jeden Fall wollen sie zusammenbleiben, sich gegenseitig die Egel von den Körpern pflücken. Sie halten an, um sich Beistand zu schwören. Und Minuten später sind sie ermattet von den tausend Körperdrehungen, dem aussichtslosen Zerren. Sie sind in einen warmen Pelz gekleidet. Das anästhesierende Serum der Egel und der Blutverlust erzeugen das zähe Gefühl, sie seien wohlauf. Sie gehen langsamer, setzen sich. Die schwarzen Flammen züngeln bereits über die Gesichter. Keiner kann noch sprechen, Egel kleben an den Innenseiten der Lippen und kriechen in die Nasenöffnungen. Bald weiß keiner mehr, wer der andere ist, welch dunkler Geist neben ihm liegt und lacht und sich windet in einer absurden Laune. Der Träger erreicht das Wasser. Er wirft sich in den kalten Bach, als ein letzter Krampf durch drei, vier Männer zuckt. Der fünfte ist dort weit oben schon auf andere Weise verblutet, der sechste und der siebte sind verschwunden. Und die nackten, gleichfarbenen Leichen – Mukherjee fast so hellhäutig wie Fust dunkel für einen Europäer, und Maettgen privatsolariumgebräunt – drei gespenstische, blutleere, noch teils schwarz bedeckte Weiße also, liegen in einer Gruppe von jungen Schierlingstannen; und die jetzt dick geschwollenen, riesenhaften, letzten Zungen lecken wie das Feuer der Hölle an ihrem Blut.

 
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    EPILOG

 
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    Quizá la historia universal es la historia
    de la diversa entonación de algunas metáforas.
    Jorge Luis Borges

I
    IM DORF N hatte uns Schmithausen erwartet. Erwartet. Denn Schmithausen war keineswegs erstaunt, uns hier anzutreffen. Er habe von unserer kleinen Wanderung schon gehört, sagte er. Er war mürrisch, und das nicht bloß deshalb, weil sein Geländewagen beschädigt war.
    In N regnete es ohne Unterlass. Wir übernachteten im Haus des Dorfvorstehers und erzählten Schmithausen alles, was wir wussten oder vermuteten. Es wurde nicht richtig hell. Dunkelgraue Stratocumuli hingen in die Täler herein. Und dann hüllte uns der Nebel so dicht ein, dass man den ganzen Tag nur ein graues Weiß vor den Fenstern sah.
    Heman, unser Führer, erwähnte das namenlose, unten versperrte Tal, den, wie von Dasgupta beschrieben, vor einer Felswand im Untergrund verschwindenden Fluss und unseren beschwerlichen Weg zum Dorf N (es war nach der zweiten Nacht im Tal ohne Namen gewesen) mit
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