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Der dritte Berg

Der dritte Berg

Titel: Der dritte Berg
Autoren: J.F. Dam
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neben ihrer Mutter bestattet werden.
    Ich schalte Macfreedom ein, bis zum Morgen werde ich vom Internet getrennt sein. Lange stehe ich am Fenster, ein Glas Portwein in der Hand. Draußen die Dunkelheit, hier drinnen die Finsternis des Lebens. Bald ist es, als klafften um mich bloß gefräßige, schwarze Löcher. Gleich werde ich in eines von ihnen gesogen werden und fallen, fallen, bis ich zerdrückt werde von Schwerkraft, Traurigkeit und dem bloßen Mangel an Zuversicht. Und ich stelle mir unangenehme Fragen. Zum Beispiel, ob Maggie noch am Leben wäre, wenn ich die Angst in ihrer Stimme gehört und auf sie reagiert hätte, oder auch, und es ist beachtenswert, welche Fragen der Tod aufzuwerfen imstande ist, ob ich eigentlich der Mensch bin, der ich sein will (was voraussetzt, dass ich von Letzterem eine gewisse Vorstellung habe). Ich bin mitschuldig an Maggies Tod – Unterlassung, miserable männliche Intuition, insgesamt unverzeihliche Verbrechen.

    Gegen Mitternacht schiebe ich Bruckners Neunte in den Schlitz meiner Soundanlage. Einen Teil meiner Kindheit habe ich vor einem Stutzflügel zugebracht. Doch nach Mozart und Brahms kamen der Grunge Rock und Nirvana und mit ihnen eine Fender Stratocaster special edition. Heute ist Bruckner zu meinem Gott geworden (Nirvana sind sein wilder Messdiener). Und die Neunte – ihr Gesäusel, das Getrappel, die Kaskaden, der massive, herabstürzende Block der Gnade – ist die kosmische Messe meiner Religion.
    Bruckner jedenfalls ist es, der mich über die nächsten Stunden rettet.

    Als ich zu Bett gehe, ist die Portweinflasche leer und die Nacht bald vorüber. Keine zwei Stunden habe ich geschlafen, als ich aus dem Schlaf schrecke: ein Geräusch. Ich horche in die Dunkelheit. Wut sitzt in meiner Kehle, sie ist wie abgeschnürt. Eben habe ich geträumt, wie ich Maggies mutmaßlichem Mörder gegenüberstehe; meine Ferse war in seine Magengrube versenkt und meine Spucke klebte als weiße Spinne in seinem Gesicht. Ich wälze mich aus dem Bett, schlurfe am Badezimmer vorbei hinüber in den Wohnraum. Ich lasse mich in das kühle Leder des Sofas fallen und stelle das Fernsehgerät an, worauf das Licht aus einem Kabelkanal in das Zimmer fällt. Da sind Unstimmigkeiten: Das Maul einer kaum jemals benutzten Schreibtischlade steht halb offen; durch die Unterlagen zu dem Artikel, an dem ich seit Wochen arbeite ( Microclimates of Minor Alpine Glaciers ), ist ein kleiner Wind gefahren. Ich trete hinaus in den Vorraum, mache Licht. Da sind braungraue Spuren. Ich prüfe mit dem Finger: Die Spur ist noch nass, und sie kommt von keinem meiner Schuhe. Hellwach laufe ich zurück in den Wohnraum. In diesem Augenblick schnappt das Schloss der Eingangstür. Jetzt renne ich aus dem Zimmer und reiße die Wohnungstür auf. Leere, Fahrstuhlgeräusche; dann höre ich den Fahrstuhl drei Stockwerke unter mir ankommen. Wut schießt wieder hoch in meine Kehle. Ich stürme zurück in die Wohnung und auf den Balkon: Eine in der Finsternis kaum erkennbare Gestalt verlässt bedächtig das Haus und verschwindet unter den Ahornkronen der Straße.

    Das wahrhaft Bizarre aber ist die Nachricht, auf welche der Einbrecher mich stößt.
    Auf dem Boden meines Wohnzimmers liegt ein Brief, den ich am Vortag erhalten und noch nicht geöffnet habe. Ich hebe ihn auf und sehe, dass der Brief von dem Eindringling halb aufgerissen worden ist. In dem Umschlag steckt eine Broschüre. Werbeprospekt über San Felice del Benaco. San Felice del Benaco. Ein kleiner Ort am Westufer des Gardasees. Und Maggie, Christian und ich haben dort vor zwei Jahren ein Wochenende verbracht. Ich besehe mir den Umschlag näher. Auf der Rückseite befinden sich mit Bleistift hauchdünn aufgetragene Worte, in Maggies Handschrift:

    eternal friendship, Maggie

MEINE GEDANKEN sind adrenalinverseucht, dabei fett und irgendwie träge. Erstarrt stehe ich mitten im Raum, den Briefumschlag in der einen, den Gardaseeprospekt in der anderen Hand. Ich halte den Atem an und gehe drei Schritte vor, drei zurück. Dann noch einmal. Ich weiß, dass damals am Gardasee etwas getan oder gesagt worden sein muss, das einen Schlüssel zu den Ereignissen dieses Tages darstellt. Oder Maggie hat das vermutet. Oder sie hat bloß eine Spur legen wollen. Aber ich weiß nicht, was und wozu und wohin.
    Ich sollte wohl etwas tun. Das Dröhnen in meinem Kopf lässt nach. Ich denke daran, Fiala anzurufen, gehe dann aber bloß zu meinem Schreibtisch und greife mir das Notebook. Ich
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