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Der dritte Berg

Der dritte Berg

Titel: Der dritte Berg
Autoren: J.F. Dam
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befinden uns an der Ecke zur Alser Straße.
    »Wir haben an Ihrer Arbeitsstelle angerufen, Dr. Rai«, sagt er. »Alibi. Darauf können wir in einem solchen Fall nicht verzichten. Zur Todeszeit befanden Sie sich in einer morgendlichen Besprechung.« Begeisterung glimmt jetzt in Fialas Augen auf, und dazu beginnt er zu nicken. »Wissen Sie, zu Hause werfe ich öfter einen Blick in meinen Wolkenatlas. Sehr interessant. Meistens schaffe ich es, damit das Wetter vorauszusagen, Sie wissen schon … Cirruswolken, und dann kommt …«
    Fiala bemerkt meinen angeekelten Blick, mitten im Satz bricht er ab. Und aus seinem Nicken wird ein langes Vor- und Zurückwippen seines Kopfes, so, als habe er vergessen, welcher Schalter diese Bewegung wieder abstellt. Am Ende bleibt sein Kopf doch noch irgendwo in der Mitte stehen. Die olivgrünen Äuglein heften sich an meinen Schal.
    »Ich muss Sie leider bitten, zur Protokollaufnahme mit mir in die Wattgasse zu kommen, Dr. Rai«, sagt er.
    »Na dann«, flötet Wilson und hält mir eine zögerliche Hand entgegen. Ich ergreife sie, trotz allem, und mache mich mit Fiala auf den Weg zu seinem Dienstwagen. »Wann wird denn dieser verdammte englische Nebel endlich aufhören?«, ruft Wilson mir verschämt nach; ich weiß es, antworte aber nicht.

EINE KALTFRONTOKKLUSION schiebt sich an diesem Nachmittag auf den Osten des Landes zu; sie ist es, die den Nebel auflösen wird. Der Luftdruck sackt an ihrer Front in wenigen Stunden um fünfunddreißig Millibar ab. Wir befürchten Erdrutsche in den Bergen sowie regional schwere Überschwemmungen. Nachdem ich Fiala sein Protokoll diktiert habe, kaufe ich mir zu Ehren Maggies eine Flasche Portwein. Portwein und Gin sind das Einzige, das Maggie je getrunken hat. Eine Flasche Grabrede und Gedenken.
    Doch anstatt sogleich nach Hause zu fahren, mache ich mich auf den Weg zurück zur ZAMG , der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik – ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, der Schock, ein Mangel an Geistesgegenwart –, und trotte wie willenloses Vieh in mein Büro. Abwechselnd und jedes Mal noch dumpfer stiere ich zweieinhalb Stunden lang auf meinen Bildschirm oder hinaus in den Nebel. Ich besuche XING , linkedIn und Facebook. In Letzterem hinterlasse ich einen kurzen Nachruf auf Maggie, den ich in der Folge bestimmt zehn Mal überarbeite.
    Auf meinem Bildschirm nähert sich die Okklusion auf den alle paar Minuten erneuerten Satellitenbildern; Wände von Wasser stelle ich mir vor. Ich halte es mit Sintfluten und Kataklysmen. Das Leben wippt über einem Abgrund. Unsolide, ein Irrsinn.

    »Maharadscha.« Als ich Maggie das erste Mal sehe, hat sie ein Glas Portwein in der Hand, und sie verpasst mir einen Namen, den ich nicht mehr ganz loswerde. »Oder etwa doch nur bengalische Rotznase?«
    »Und selbst? Aufseherin im Cellular Jail auf den Andamanen?« Es ist ein Empfang an der indischen Botschaft. Mein Großvater hat eine martialische Rolle im indischen Unabhängigkeitskampf gespielt und Maggies Großvater hat seine Zeit als britischer Kolonialoffizier abgedient.
    »Fünfundzwanzig Prozent indisches Blut qualifizierten selbst damals nicht für eine englische Spezialbehandlung. Sie geben aber eine hübsche Unterhaltung ab.« Maggie grinst, sie trinkt nicht das erste Glas, und sie konnte sowieso schmutzig grinsen. Ihre knochige, lange Gestalt steckt in einem weit geschnittenen Hosenanzug. »Nachher«, haucht sie.
    »Dazu reicht deine Portokasse nicht.«
    Maggie legt mir einen Finger auf die Lippen. »Ich mag dich«, sagt sie. Dabei kannte sie mich seit genau einer halben Minute. »And I am lovely, just try.«

    Eine eigenartig durchscheinende, leere Dunkelheit legt Hülle um seidene Hülle über mich. Bis ich kaum noch freie Sicht auf die Welt habe.
    Gegen halb sechs Uhr wird mir die Lächerlichkeit meines Tuns bewusst; ich mache mich aus dem Staub. Als ich meine Jacke vom Haken nehme, kommt mir das Telefongespräch mit Maggie von letzter Nacht in den Sinn; Gabriela schlief schon fast, ich war zum Telefonieren hinaus ins Wohnzimmer gegangen. Anfangs ging es um einen alten Druck der Silberstiftzeichnung von Jan van Eyck, den sie bei einer Auktion erstanden hatte, als Geburtstagsgeschenk an sich selbst. Und während ich jetzt hinunter auf den Parkplatz laufe, die Treppe, den Gang, die Eingangshalle, kaue ich das ganze Gespräch durch, ich nehme mir vor, es aufzuschreiben, so gut es geht, Wort für Wort, eine Andachtsübung. Und ich entdecke, dass
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