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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel
Autoren: Wilton Barnhardt
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zurück. Ihre Doktorarbeit: nach vier Jahren Arbeit immer noch nicht fertig!
    Natürlich würde sie sich auf diese Reise machen. Sie war tatsächlich noch fast nirgendwo gewesen – Indiana, Wisconsin bis zu den Steilufern des Wisconsin River, Illinois, einmal bis nach St. Louis zur Weihe des Erzbischofs, als sie noch klein war. Außerdem konnte Lucy die Bitte gar nicht ablehnen – die erste und vielleicht einzige Bitte, die man in all den Jahren, die sie an diesem Fachbereich in akademischer Bedeutungslosigkeit verbracht hatte, an sie richtete. Vor allem, da im September die Anhörung zur Fristverlängerung ihrer Doktorarbeit anstand. Und das angesichts der Tatsache, daß sie schon drei verschiedene Betreuer gehabt hatte. Nein, sie hatte keine Wahl. Sie musste fahren, und sie musste Erfolg haben.
    Lucy musste auch deshalb fahren, weil es aufregend sein würde – ein anderes Land. Und in Lucys Leben hatte es bisher so wenig Aufregendes gegeben, daß sie diese verpasste Gelegenheit zu einem bezahlten Trip nach England monatelang verflucht hätte, wenn sie abgelehnt hätte. Sie hatte sich schon manchmal gefragt, ob ihr Leben überhaupt je aufregend sein würde, ob die nächsten Jahre vom Schicksal dazu bestimmt waren, genauso zu verlaufen wie die vorhergehenden: gesichert und langweilig. Eine heftige Turbulenz holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Lucy war eine geborene Schwarzseherin. Hin-und hergerissen zwischen dem Gedanken an einen Flugzeugabsturz und der Frage, wie sie mit Dr. O’Hanrahan umgehen sollte, dessen grimmige Erscheinung sie ein-oder zweimal im Hörsaal gesehen hatte, produzierte ihr Körper einen Adrenalinstoß der Angst nach dem anderen. Was ist, wenn Dr. O’Hanrahan wider Erwarten nicht in Oxford ist?
    Oder wenn er sich weigert, mit mir zu reden? Und wenn er verrückt ist? Und was ist, wenn Gabriel einen schlimmen Unfall gehabt hat und Dr. O’Hanrahan es vertuschen will? Ich werde die Antworten früh genug erfahren, dachte Lucy, als sie hinaussah und London in einer Waschküche tiefhängender Regenwolken erblickte. O danke, Gott Vater, Gott Sohn und Heiliger Geist, daß ihr mich heil und gesund hierhergebracht habt!
    (Nichts zu danken.)
    Allerdings stürzen die meisten Flugzeuge beim Start – oder bei der Landung ab.
    (Das ist aber nicht der Kampfgeist, den Wir erhofft haben, Lucy!)
    Aufsetzen. Drosseln der Geschwindigkeit. Alle noch am Leben. Lucy wurde durch den Zoll Ihrer Majestät geschleust und tauchte wieder auf, nachdem sie nur ein Minimum an Getue und Schikanen hatte über sich ergehen lassen müssen. Ihr Gepäck kam ihr auf dem Förderband entgegen, und rasch schnappte sie sich ihren vollgestopften Koffer, erleichtert, daß er mit ihr angekommen war, und voll Furcht, jemand könnte sich damit davonmachen. Dieses Europa erfüllte sie noch mit Misstrauen . Langsam nahm sie die Andersartigkeit der Di nge wahr. Das Schild: Informa tion Center . Genau, sie erinnerte sich dunkel, hierzulande drehte man die Endung er um. Unter den Ge sprächsfetzen in Urdu, Französisch und Deutsch erkannte sie ihre eigene Sprache, mit knapperen Silben, manchmal kultivierter und förmlicher, manchmal unverständlich, aber musikalisch und lebhaft. Yeah, bestätigte sie sich innerlich, sie sehen sogar englisch aus. Eigentlich nicht wesentlich anders als die Iren, unter denen sie aufgewachsen war. Aber nirgendwo sah sie Melonen. Nirgendwo blasierte Jungen aus Eton, nirgendwo Kaminkehrer wie aus Mary Poppins, nirgendwo Angehörige des Königshauses.
    Die Schilder wiesen ihr den Weg zu einem feuchten, kalten Platz; sie war froh darüber, warme Kleidung mitgenommen zu haben. Und siehe da, hier ums Eck stand auch der erste rote Doppeldeckerbus, mit dem Schild Victoria Station. Lucy ging an einer Reihe von Menschen vorbei, um den Fahrplan zu studieren.
    »Entschuldigen Sie«, sagte die »Schirmherrin« an der Spitze, »das hier ist eine Warteschlange.«
    Nach einer Schrecksekunde reihte sich Lucy hinten in das schweigende Regiment der Reisenden ein, die sie alle wütend anfunkelten. Der Bus, der sie nach Oxford bringen würde, rollte quietschend an die Haltestelle. Lucy kaufte mit einem steif raschelnden Fünf-Pfund-Schein eine Fahrkarte und setzte sich an ein Fenster, damit sie hinaussehen konnte. Neben ihr saß eine ältere Dame. Kaum hatte der Bus seine einstündige Fahrt begonnen, als die Fenster beschlugen. Lucy wischte mit dem Pulloverärmel immer wieder ein kleines Guckloch frei. »Oh, das genügt schon,
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