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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel
Autoren: Wilton Barnhardt
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stornierte die Fakultät die Karte.
    Während man Gabriels Eltern versicherte, es sei alles in Ordnung mit ihrem Sohn, und Dr. O’Hanrahans Schwester versicherte, es sei alles in Ordnung mit ihrem Bruder, begann man an der Universität den Verdacht zu hegen, daß die Dinge eben nicht in Ordnung waren: daß dieser bittere, trunksüchtige, exzentrische Genius vielmehr die Kreditkarte des Instituts zusammen mit einigen anderen Geldern und Mitteln mitgenommen hatte, um sich, in einem letzten verzweifelten Versuch, an dem Fachbereich zu rächen, den er aufgebaut und der ihn, seiner Meinung nach, verraten hatte.
    »Verstehen Sie, Miss Dantan«, hatte Dr. Shaughnesy vor einer Woche zu ihr gesagt, als sie in seinem eichenmöblierten Büro saß, das düster war, wie man es vom Studierzimmer eines Theologen erwartet, »O’Hanrahan ist ein großer Mann von großem Geist, aber leider erfüllt von einem großen Groll gegen uns. Der arme Patrick hat den Verdacht, seine Amtsenthebung als Leiter des Fachbereichs sei das Ergebnis einer freimaurerischen Verschwörung.«
    »Wenn er nicht auf Sie hört, warum sollte er dann auf eine Fremde wie mich hören?« fragte Lucy.
    »Vielleicht tut er das auch nicht, aber zumindest hat der Theologische Fachbereich dann alles getan,
    was ihm möglich ist, um ihn wieder zurückzuholen. Wir möchten, daß Sie mit größtem Takt und größtmöglicher Diplomatie an ihn herantreten und ihm vorschlagen …« – Dr. Shaughnesy versuchte, ein besorgtes Gesicht zu zeigen, menschliches Mitgefühl war nicht seine Stärke, und so musste er immer ein wenig schauspielern – » … ihm vorschlagen, zu seinen Lieben und zu seinen Kollegen zurückzukehren. Helfen Sie mit, daß nicht alles in diesem … in diesem kindischen Imponiergehabe endet.«
    »Könnte Dr. O’Hanrahan nicht«, gab Lucy zu bedenken, »doch auf einer Spur sein? Ich meine, er ist schließlich der Mann, der bei den Nag-Hammadi-Ausgrabungen und an der Nimrud-Dag-Stele mitgearbeitet und mitgeholfen hat, die Fragmente der Huntington Library von den Schriftrollen vom Toten Meer zu katalogisieren. Vielleicht spaziert er wirklich eines Tages mit einer weiteren Schriftrolle oder etwas Ähnlichem zur Tür herein.«
    Dr. Shaughnesy sah etwas gequält drein und drehte den großen Onyxring, den er an der linken Hand trug. Lucy beobachtete seine bleichen langen Finger. »Ich glaube nicht, meine Liebe. Ich habe einen Aktenordner voller Haßbriefe von dem Mann, und ich bezweifle, daß er irgendein anderes Ziel hat, als einen gewaltigen Berg von Kneipen-und Restaurantrech nungen anzuhäufen.« Wieder drehte der Leiter des Theologischen Fachbereichs nervös an seinem Ring. »Und trotzdem, ich will ihn nicht bei der Polizei oder bei sonst jemandem anzeigen. Ich will ihm diese Warnung zukommen lassen – immerhin verdanke ich Patrick, daß man mich eingestellt hat. Wir, seine früheren Kollegen und Verehrer, schulden ihm diesen Gefallen.«
    Lucy fragte, warum Dr. Shaughnesy so sicher sei, daß O’Hanrahan an einem Essen im All Souls’ College von Oxford, das am Donnerstag, dem 21. Juni 1990, stattfinden sollte, teilnehmen werde. Die »Akoluthen« waren eine Art Feinschmeckerclub für Geistliche verschiedener Glaubensrichtungen – Islam, Katholizismus, Protestantismus und Judentum –, die einmal im Jahr zu einem auserlesenen Festessen mit seltenen Weinen, edlen Likören und einem vorher festgesetzten Thema für eine gelehrte und hitzige Debatte zusammenkamen.
    »Bisher hat er keines dieser Dinners versäumt«, antwortete Dr. Shaughnesy. »Und ich habe mich mit einem Kollegen in Cambridge, der ebenfalls Mitglied der Akoluthen ist, in Verbindung gesetzt. Da er selbst indisponiert ist, hat er mir seinen Platz abgetreten,
    und ich meinerseits habe Sie als Teilnehmerin angemeldet.«
    »Wow.«
    »Natürlich steht es Ihnen frei, diese Reise für den Fachbereich abzulehnen«, bot Dr. Shaughnesy an und blickte prüfend auf seine blutleeren Hände.
    »O nein, Sir«, beteuerte sie. »Eine wundervolle Gelegenheit. Ich meine, ich war bisher eigentlich noch nie irgendwo. Gibt es … gibt es einen Grund, warum Sie gerade mich ausgesucht haben?« Dr. Shaughnesy lächelte kurz. »Wir wollten jemanden von der Fakultät schicken, aber es stellte sich heraus, daß niemand verfügbar war, an dem Patrick nicht sofort Anstoß nehmen würde – er spricht ja nur noch mit wenigen von uns. Und Sie gehören zu den reifsten Studentinnen an unserem Fachbereich.«
    Lucy lächelte matt
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