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Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5
Autoren: Bastian Sick
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den Grund: »Hier sagt niemand mehr ›servus‹ oder ›pfiagod‹«, erklärte man mir, »in München sagt man ›ciao‹!«
Weiteres zu Anredeformen:
»Sie oder sie – du musst Dich entscheiden« (»Dativ«-Band 2)
»Hallo, Fräulein!« (»Dativ«-Band 3)
»Siezt du noch, oder duzt du schon?« (»Dativ«-Band 4)
»Hello, Dolly!« (in diesem Buch auf S.164)

Kesse Wecken, dufte Schrippen
    Oft sind es Kleinigkeiten, an denen sich ein großer Streit entzünden kann. Kleinigkeiten wie ein Brötchen zum Beispiel. In einem Zeitungsinterview regte sich Wolfgang Thierse darüber auf, dass die gute alte Berliner Schrippe immer häufiger als Wecke angeboten werde. Damit brachte er die Schwaben gegen sich auf.
    Während sich die Deutschen vor dem Jahreswechsel 2012/2013 mit den üblichen Böllern und Feuerwerksraketen eindeckten, explodierte in Berlin ein Silvesterkracher ganz anderer Art. Gezündet wurde er von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, der in einem Interview mit der »Berliner Morgenpost« sein Missfallen an den Veränderungen in seinem Heimatstadtteil Prenzlauer Berg zum Ausdruck brachte. Er klagte über die angebliche Unlust der zugewanderten Schwaben, sich an die Berliner Lebensart und das Berlinische anzupassen. »Ich ärgere mich, wenn ich beim Bäcker erfahre, dass es keine Schrippen gibt, sondern Wecken«, sagte Thierse. In Berlin sage man »Schrippen«, daran sollten sich auch die Schwaben gewöhnen. Das gelte auch für anderes Backwerk, wie zum Beispiel »Pflaumendatschi«. »Was soll das?«, fragte Thierse, »in Berlin heißt es Pflaumenkuchen!«
    Klare Worte aus dem Munde eines Pfannkuchens! So nämlich heißt der Berliner in Berlin. Dass es nicht immer leichtfällt, sich mit Veränderungen abzufinden, liegt in der Natur des Menschen. Auch dass man sich durch Einflüsse fremder Kulturen verunsichert fühlen kann, ist nicht ungewöhnlich. Wenn heute Kritik am Sprachwandel geübt wird, dann geht es dabei meistens um die vielen englischen Wörter, die in den vergangenen Jahrzehnten ins Deutsche eingeflossen sind. Dass jemand an der Ausbreitung des Schwäbischen Anstoß nimmt, wirkt dagegen geradezu drollig. Nicht über neumodische Backwaren wie Donuts, Muffins, Bagels, Brownies und Wraps wurde sich hier ereifert, sondern über Wecken.
    Natürlich weckte Herr Thierse mit seinem Anti-Wecken-Ruf den Widerspruch einiger wackerer Schwaben. Mit Verweis auf den Länderfinanzausgleich machten baden-württembergische Politiker deutlich, dass die Berliner ohne die Hilfe der Schwaben deutlich kleinere Brötchen backen müssten, egal ob Wecken oder Schrippen. Außerdem seien für den Berliner offenbar alle Westdeutschen Schwaben, auch wenn sie aus Rheinland-Pfalz, Hessen oder Bayern stammten.
    Tatsächlich schien Wolfgang Thierse in seiner Erregung Gebäckstücke von unterschiedlicher Herkunft in einen Topf geworfen zu haben. Ein schwäbischer Leser wies darauf hin, dass es in Schwaben keinen »Pflaumendatschi« gebe, sondern allenfalls »Zwetschgakuacha«. Das Wort »Datschi« (von datschen/tatschen = hinklatschen, breitdrücken) ist eher in Bayern beheimatet. Dort gibt es übrigens so manche Spezialität, die man als Auswärtiger nur ungläubig bestaunen kann, zum Beispiel »Ausgezogene«, ein Schmalzgebäck. Ausgezogene (bairisch Auszogne ) werden auch »Knieküchle« genannt, weil der Teig über dem Knie in die Länge gezogen, also ausgezogen wird. Was würde Herr Thierse erst denken, wenn ihm im Schaufenster »Ausgezogene für nur 1 Euro!« angeboten würden. »Jetzt machen diese Schwaben aus unserer Berliner Bäckerei auch noch eine Peepshow!«
    In Hamburg und Schleswig-Holstein heißt das Weizenbrötchen traditionell »Rundstück«. Doch unter diesem Namen kennen es heute nur noch die Älteren. Das Rundstück verschwindet, stattdessen ist hier die Schrippe auf dem Vormarsch. Vielleicht sollte Herr Thierse nach Hamburg ziehen, dann müsste er sich nicht länger von Wecken überfremdet fühlen. Allerdings bekäme er es dann mit der »Hansesemmel« zu tun, einem Bäckereierzeugnis, das gegensätzliche Kulturen auf knusprige Art in sich vereint.
    Der deutsche Sprachraum gliedert sich in drei große Zonen: eine Brötchenzone im Norden, eine Weckenzone im Südwesten und eine Semmelzone im Südosten. Berlin hat, nicht zum ersten Mal in der Geschichte, einen Sonderstatus – als Schrippeninsel. Die Übergänge zwischen den Zonen sind fließend, und die Zahl der regionalen Varianten ist groß. Nirgends aber ist
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