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Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 2: Folge 2 (German Edition)

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 2: Folge 2 (German Edition)

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 2: Folge 2 (German Edition)
Autoren: Bastian Sick
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Haben es die afrikanischen Zöllner konfisziert? Nein – der Deutsche hat es sich selbst abgeschnitten, beim Wechsel vom unbestimmten (»ein«) zum bestimmten (»der«) Substantiv. Typisch deutsch: Eine solche Zickigkeit können nur wir uns leisten. Der Däne bleibt Däne, auch wenn es »ein Däne« heißt, und der Franzose bleibt Franzose, auch wenn er als »ein Franzose« vorgestellt wird. Aber der Deutsche beansprucht zwei Formen im Singular.
    Das liegt daran, dass er im Unterschied zu den Herren aller anderen Länder aus einem Adjektiv entstanden ist. Nicht aus Erde wie Adam, nicht aus Lehm wie der Golem und nicht aus Holz wie Pinocchio, sondern aus einem kleinen Eigenschaftswort. So wie ein Blinder der Blinde heißt, weil er blind ist, und ein Alter der Alte, weil er alt ist, so heißt ein Deutscher der Deutsche, weil er deutsch ist. Während andere Völker nach ihrem Land benannt sind, handelt es sich beim Deutschen um ein substantiviertes Adjektiv. Der Deutsche befindet sich geografisch in Nachbarschaft zu Dänen, Polen, Niederländern und Tschechen, grammatisch aber befindet er sich in Gesellschaft von Untergebenen, Angestellten und Gefangenen, lauter Bezeichnungen, die ebenfalls aus Adjektiven hervorgegangen sind. Und substantivierte Adjektive scheinen nicht als vollwertige Hauptwörter zu gelten, jedenfalls werden sie wie Adjektive dekliniert. Daher der auffällige Wechsel von »-e« zu »-er«.
    Kein Wunder, dass es mit der »Weltherrschaft« der Deutschen nicht geklappt hat, wenn nicht mal unsere eigene Grammatik uns als »echte Hauptwörter« anerkennt und uns stattdessen wie aufgepumpte Wie-Wörter behandelt. Wäre der Deutsche nicht aus einem Adjektiv hervorgegangen, sondern vom Namen seines Landes abgeleitet (so wie der Österreicher von Österreich und der Engländer von England), dann hießen wir heute womöglich »Deutschländer« und wären lauter arme kleine Würstchen. Dann doch lieber ein Adjektiv.
    Auch für die weibliche Form lässt sich eine Besonderheit feststellen: Während die Frauen anderer Länder einfach durch Anhängen der Silbe »-in« geformt werden (Engländer + in = Engländerin, Spanier + in = Spanierin, Iraker + in = Irakerin), wird dem Deutschen zwecks Erschaffung einer Frau nichts angehängt, sondern abgeschnitten: ein Deutscher – r = eine Deutsche. Auch die weibliche Form geht auf ein Adjektiv zurück und wird daher wie ein Adjektiv dekliniert. So wie die Alte, die Dumme, die Schöne und die Biestige.
    Im Plural wird es nicht besser. Was – mit bestimmtem Artikel – »für die Deutschen« gilt, das gilt – unbestimmt – »für Deutsche«. Steht vor den Deutschen gar ein Pronomen oder ein Attribut, ist die Verwirrung komplett. Heißt es nun »wir Deutsche« oder »wir Deutschen«? Besteht dieses Problem nur für »einige Deutsche«, oder besteht es für »alle Deutschen«? Nicht einmal Horst Köhler kann sicher sagen, ob er als Bundespräsident für uns Deutschen spricht oder für uns Deutsche.
    Der Duden erklärt, dass zwei Formen nebeneinander existieren, eine starke (»wir Deutsche«) und eine schwache (»wir Deutschen«). Die starke sei allerdings auf dem Rückzug; die schwache Form setze sich mehr und mehr durch. Richtig sind nach wie vor beide, es bleibt also jedem selbst überlassen, welcher Form er den Vorzug gibt.
    Das Sprühwerk an der Wand bleibt trotzdem falsch. Selbst wenn man »Scheiße« in »Scheiß« verwandelte, das defekte »sch« reparierte und mittels Trompe-l’Œil-Technik die Illusion von Zusammenschreibung erzeugte, so wäre da immer noch die störende Endung. Man müsste folglich entweder das »n« übertünchen – oder aber ein »Ihr« davorsetzen, dann würde es wieder richtig. Wahlweise auch ein »Wir« – je nach Standpunkt des Betrachters. Ob nun aber – den Scheiß mal beiseite gelassen – »wir Deutsche« oder »wir Deutschen« besser klingt – ich vermag es nicht zu sagen. Das Klügste wird sein, ich beantrage die dänische Staatsbürgerschaft, denn mit denen (also Dänen) gibt es in grammatischer Hinsicht kein Vertun.

Liebe Verwandte oder liebe Verwandten?
    Frage eines Lesers: Immer wieder zu den Festtagen kursieren familiäre Rundbriefe, die nicht selten mit der Anrede »Liebe Freunde und Verwandten« beginnen. Meinem Gefühl nach müsste es korrekterweise »Liebe Freunde und Verwandte« heißen. Liege ich richtig? Ich erwarte gespannt Ihre Antwort und grüße recht herzlich!
    Antwort des Zwiebelfischs: Ihr Gefühl täuscht Sie
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