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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios
Autoren: Wolf Serno
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auf Erden,
    so Du denn eine Seele zu dir nehmen willst,
    nimm mich, Deinen sündigen Sohn Vitus!
    Mit Freuden will ich sterben,
    wenn sie dafür lebt!
    Amen. Amen. Amen.«
    Er hatte stumm gebetet, und die Worte an seinen Schöpfer hatten ihm Kraft verliehen. Da hörte er wieder Arlette, so leise, dass sie kaum zu vernehmen war:
    »Musik«, wisperte sie, »schöne Musik … wie aus einer anderen Welt.«
    Er spitzte die Ohren und stellte fest, dass sie Recht hatte. »Warte, Liebste, ich schaue mal nach.« Er löste sich behutsam von ihr, stand rasch auf und begab sich ans Fenster. Unten auf dem Hof standen vier oder fünf Gestalten, Burschen und Mädchen der Dienerschaft mit Flöten und Schalmeien, die eine einfache Weise spielten. Die Melodie war leicht, harmonisch und zu Herzen gehend. Und vor den Musizierenden, sie emsig dirigierend, stand der Zwerg.
    Jetzt blickte der Winzling zu ihm herauf und rief mit fistelnder Stimme: »’s is die Schallerei, Vitus, die Schallerei is es, die wieder gesund macht, wui?«
    Er kämpfte gegen die Tränen der Rührung an und rief hinunter: »Ja, die Harmonie ist es, ja!«
    Dann ging er zurück, um Arlette zu wärmen.

Epilog
    N och am selben Tag schlief Arlette ein. Sie starb in Vitus’ Armen.
    Als die Kunde sich im Schloss verbreitete, stand alles Leben still. Die Menschen schwiegen, waren sprachlos vor Kummer, und viele Hände falteten sich zum Gebet für die Verstorbene.
    Nach gebotener Zeit, eine Stunde oder mehr mochte vergangen sein, befahl Catfield, die Arbeit wieder aufzunehmen. Sie machte sich nicht von allein, und er war sicher, dass er in Vitus’ Sinne handelte. Als Erstes ordnete er an, dass die Feuer, die überall auf dem Gelände zu verlöschen drohten, weiter unterhalten werden sollten. Die Pest, das wusste er, war noch lange nicht besiegt. Noch immer konnte Miasma in versteckten Winkeln oder Ecken überlebt haben. Da die Flammen Unmengen an Holz verschlangen, stellte er einen Trupp Männer ab, der am folgenden Tag neues Brennmaterial besorgen sollte. Dann ließ er nach Doktor Burns schicken, damit er ein weiteres Mal das Gesinde auf Anzeichen der Seuche untersuchte. Der alte Arzt kam noch am selben Abend. Gottlob konnte er keine neuen Fälle konstatieren, was große Erleichterung auslöste.
    Unter den Männern, die am nächsten Tag Holz schlagen sollten, war auch Keith. Der junge Mann mit den abstehenden Ohren trauerte auf seine Art. Er zog sich in die Stallungen zurück, wo er mit Odysseus und den anderen Pferden Zwiesprache hielt. Die Nähe der Tiere, ihre warmen Körper und der vertraute, strenge Geruch beruhigten seine aufgebrachten Nerven.
    Auch Hartford trauerte. Und er tat dabei etwas, das er normalerweise niemals tat: Er betrank sich innerhalb kürzester Zeit und musste von der Dienerschaft vor Catfield versteckt werden. Mrs Melrose aß einen ganzen Mandelkäse auf und weinte zwischen den Bissen ihre Küchenschürze nass, was allseits viel Beachtung fand, denn noch nie hatte jemand sie so verzweifelt gesehen. Selbst der Zwerg vermochte sie nicht zu trösten, vielleicht, weil er selbst untröstlich war.
    Der Magister lief den ganzen Abend mit grimmiger Miene durch das Schloss, stapfte durch die Ställe, ging über die Höfe, wanderte bis zu dem See, wo die Enten sich im Schilf zur Ruhe begeben hatten, und marschierte die gesamte Strecke wieder zurück. »Was mach ich nur? Was mach ich nur?«, murmelte er ein ums andere Mal. »Ich muss ihn aufrichten, sonst stirbt auch er noch!«
    Doch Vitus war für niemanden zu sprechen. Die ganze Nacht und den folgenden Tag verbrachte er an der Seite der toten Arlette, und niemand traute sich zu ihm in das Sterbezimmer. Erst am darauf folgenden Tag erschien er, bleich und übernächtigt und nur noch ein Schatten seiner selbst. Mit steinerner Miene gab er die notwendigen Anweisungen für Trauerfeier und Beerdigung. Die Messe sollte in der Schlosskapelle gelesen werden, und alle, die Arlette ein letztes Lebewohl sagen wollten, sollten dazu Gelegenheit bekommen.
    Reverend Pound reiste aus Worthing an, um den Trauergottesdienst zu halten. Ein Schritt, der ihm nicht leicht gefallen war, schließlich war auch er nur ein Mensch, und er wusste um die Ansteckungsgefahr der Pestilenz. Dennoch kam er. Und er fand einfache, eindringliche Worte, die allen zu Herzen gingen.
    Arlettes sterbliche Hülle wurde in der Familiengruft der Collincourts unter einer granitenen Grabplatte beigesetzt. Vitus hatte lange überlegt, was er als
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