Der Chinese
nichts. Er bückte sich endlich und entdeckte unter dem Bett eine Bleikugel; er nahm sie in die Hand, sie war rund wie ein Globus, aber statt des Äquators hatte jemand in das Blei eine Rinne eingeschnitten und in sie einen zusammengefalteten Papierstreifen geklemmt. Sorgfältig zog ihn der Wachtmeister aus dieser Rinne und las den Satz, der darauf getippt war:
Finger ab de Röschti!
Studer verzog das Gesicht, schüttelte das Haupt und murmelte: »Chabis!«
Aber dieses Wort schien doch nicht seine letzten Gedanken über den Vorfall wiederzugeben, denn der Wachtmeister behielt den Papierstreifen in der Hand, brummte ein paarmal: »Finger ab de Röschti!«
Es war klar: Mit einem Karabiner, oder auch nur mit einem Luftgewehr, war diese Kugel nicht in das Zimmer geschossen worden. Vieles sprach dagegen.
Der Papierstreifen, der in den Äquator der Bleikugel geklemmt worden war, hätte ein Abschießen verunmöglicht.
Was kam noch als Waffe in Betracht?
Einzig eine jener Schleudern, wie er sie als Fisel zum Spatzenschießen verwendet hatte… Eine Gabel, aus Holz oder Metall, an ihren beiden Enden sind Kautschukschnüre angebracht, rechteckig im Durchschnitt, zusammengehalten an ihrem andern Ende, von einem Lederstück: In dieses wird die Kugel, der Stein, kurz das Wurfgeschoß gelegt, mit Daumen und Zeigefinger der Rechten festgehalten, während die Linke die Gabel hält; Daumen und Zeigefinger der Rechten ziehen die Gummischnüre, durch die Öffnung der Gabel wird gezielt – die Rechte läßt den Lederplätz los, das Geschoß fliegt davon und trifft einen Spatzen oder eine Fensterscheibe… Heute war es eine Fensterscheibe und das Geschoß enthielt eine getippte Warnung.
Wer fühlte sich bemüßigt, dem Wachtmeister Studer eine Warnung zukommen zu lassen? Erstens: War sie ernst gemeint? – Wohl kaum, sonst hätte der ›Schütze‹ nicht eine mundartliche Form der Warnung verwendet. Einem, den man erschießen will, schreibt man nicht zuerst: ›Finger ab de Röschti‹. Wenn aber, und dies konnte die zweite Hypothese sein, gerade die Dialektform der Warnung das Mißtrauen des Empfängers einschläfern sollte?… Item, es empfahl sich, vorsichtig zu sein.
Blinder Passagier
Der Nebel war wohl daran schuld, daß die Dämmerung so eilig über das Land sank. Studer knipste das Licht an und zog den Vorhang vors Fenster. Die Serviertochter saß immer noch vor dem leeren Tisch, das Kinn in die Höhlung ihrer Hände gebettet, aber als der Wachtmeister das Mädchen genauer betrachtete, sah er, daß dicke Tränen ihm über die Wangen liefen. Und ein Satz kam ihm in den Sinn, ein Satz, der eher eine Frage war: »Gälled, Ihr verhaftet ihn nid, Herr Wachtmeister!«
Das Zimmer des James Farny war reichlich möbliert, es befanden sich in ihm wenigstens zwei Stühle. Und da 's Huldi auf dem einen saß, nahm er den andern, schwang ihn zu sich herüber, setzte sich rittlings auf ihn, legte die Unterarme auf die Lehne und das Kinn auf die gefalteten Hände.
»Wo fehlt's, Meitschi?« fragte er.
Das stumme Weinen ging in ein lautes Schluchzen über:
»Der Lu… der Ludwig, Herr Wachtmeister!«
»Was ist mit dem Ludwig, und wo ist er?«
»In mym… mym Zimmer!«
»Du machscht ja schöni Sache!« meinte Studer. »Wart' hier auf mich, ich will den Ludwig holen gehen.« Er verließ das Zimmer und war eigentlich erstaunt, den alten Wirt nicht hinter der Türe beim Lauschen zu ertappen. So stieg Studer in den ersten Stock – leere Kammern –, stieg höher, gelangte unters Dach. Das Zimmer der Serviertochter war nicht schwer zu finden. Auf den Schwellen der andern Zimmer lag Staub – eine Schwelle jedoch warf das rötliche Licht der Kohlenfadenlampe zurück. Studer klopfte. Keine Antwort… Er drückte auf die Klinke und öffnete die Tür.
Links vom Fenster ein Bett, auf den Sprungfedern eine Decke. Rechts eine Matratze auf dem Boden. Ein Bursche, dessen Kopf in den gefalteten Händen lag, sprang auf und starrte den Wachtmeister an. Seine Haare waren gelb wie Roggenstroh und seine Augen von so dunklem Blau, daß sie gar nicht an eine Spritflamme erinnerten, sondern eher an einen Bergsee… Der Anzug aus Halbleinen verrumpfelt… Und sicher hatte sich der Bursche seit drei Tagen nicht rasiert.
Studer nickte befriedigt, denn das Zimmer bewies deutlich, daß alles in Ehren zugegangen war. Da wurden stets große Sprüche gemacht, in denen von der Unmoral der heutigen Jugend geredet wurde – und hier? Hier hatte eine
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