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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss
Autoren: Moritz Netenjakob
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neulich erst meine Nachbarn gesagt.«
    »Mutter, das waren die Zeugen Jehovas. Ich habe dir doch erklärt: Die sind nicht deine Nachbarn und du sollst sie nicht immer einladen.«
    »Aber die sind unheimlich nett. Und sie wissen, wann die Welt untergeht.«
    Die Denizo ğ lus sind jetzt mindestens so verwirrt wie Oma Berta, versuchen aber, sich nichts anmerken zu lassen. Mein Vater räuspert sich dreimal – ein Zeichen dafür, dass er den Faden verloren hat. Er schaut hilflos auf seinen Zettel und räuspert sich noch exakt fünfmal leise und dann einmal laut – zum Zeichen, dass es weitergeht:
    »Wir feiern also den Geburtstag eines Mannes, den niemand von uns kennt und auf den sich eine Religion beruft, die in ihrer Geschichte auf Verbrechen zurückblicken kann, die ansonsten in diesem Ausmaß nur von den Nazis begangen wurden.«
    Drei Minuten 37 Sekunden – bei Reden stoppe ich ebenfalls die Zeit. Über drei Minuten dauert es selten. Diesmal ist ihm aber seine eigene Mutter mit dem Führergeburtstag in die Quere gekommen, das erklärt vielleicht das mäßige Abschneiden.
    »… den Geburtstag eines Mannes, der zwar nicht auf dem Niveau von Sartre oder Kant philosophiert hat, der aber immerhin Wasser in Wein verwandelt haben soll, und allein das ist Grund genug, ihm jetzt gemeinsam ein Ständchen zu bringen. Also, bitte alle zusammen: Happy birthday to you …«
    In den Augen meines Vaters sehe ich, dass sein Stolz, ein originelles Weihnachtsritual entwickelt zu haben, durch die Anwesenheit von Familie Denizo ğ lu noch gewachsen ist. Zögernd stimmen zunächst meine Mutter und Ingeborg Trutz, dann auch Dimiter Zilnik, ich, Aylin, Cem, Oma Berta und schließlich auch Aylins Eltern in den Gesang ein:
    »… happy birthday to you, happy birthday …«
    Jetzt singen ich, meine Mutter und mein Vater:
    »… lieber Jesus …«
    Und meine Oma singt:
    »… lieber Führer …«
    Und dann wieder alle:
    »… happy birthday tooooo youuuuuuu!«
    Da mein Vater nichts mehr sagt und sich auch nicht mehr räuspert, begreifen die Anwesenden langsam, dass die Rede wohl zu Ende ist. Ingeborg Trutz will etwas sagen, aber da sie immer gut fünf Sekunden braucht, um vor ihren Monologen pathetisch Rauch in den Raum zu blasen, kommt ihr Frau Denizo ğ lu zuvor:
    »Vallaha, ist unheimlich interessant für uns. Wussten wir gar nicht, dass Deutsche singen zu Weihnachten Happy Birthday .«
    Endlich kann mein Vater wieder dozieren:
    »Nun, es handelt sich nicht um ein allgemeingültiges deutsches Ritual. Wir machen das eigentlich nur, um diesem ganzen albernen Brimborium eine gewisse ironische Note zu verleihen.«
    Herr Denizo ğ lu hat die Worte Ritual und Brimborium bereits vergessen, als er nachhakt:
    »Ironisch? Was bedeute ironisch?«
    »Wenn man das Gegenteil von dem sagt, was man eigentlich meint.«
    »Aber warum sagt man nicht gleich korrekt?«
    »Nun, das, also …«
    Mein Vater räuspert sich viermal. Dann übernimmt meine Mutter:
    »Das ist nur ein Spaß.«
    »Ach so, hahaha, ich mache auch gerne Spaß. Zum Beispiel: Wie viele Griechen braucht man, um zu drehen eine Glühbirne in Fassung?«
    Witze kommen im Universum meines Vaters ebenso wenig vor wie Tennissocken, hautstraffende Lotionen oder die Nintendo Wii. Wenn mein Vater lacht, dann eher über misslungene Metaphern oder falsche Superlative. Herr Denizo ğ lu klärt ihn auf:
    »Egal. Bevor sie sind fertig, ist sowieso schon wieder hell, hahaha.«
    Meine Mutter lacht höflichkeitshalber mit, und mein Vater sucht wie üblich nach einem tieferen Sinn – was ihn zum wohl schlechtesten Witzezuhörer aller Zeiten macht. (Einmal hat er es geschafft, mir meinen Lieblingswitz zu zerstören: »Gehenzwei Zahnstocher durch den Wald und sehen einen Igel; sagt der eine: ›Guck mal, da fährt ein Bus!‹« Mein Vater sah in diesem Witz eine Menge verschenktes Potenzial und meinte, es wäre viel geistreicher, wenn die Zahnstocher dann auf den Igel aufsteigen würden und anschließend aus den unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen von Zahnstochern und Stacheln eine tragikomisch-poetische Geschichte entstehen würde.)
    Herr Denizo ğ lu kommt jetzt richtig in Fahrt:
    »Was macht eine Grieche im Puff?«
    Mein Vater verteidigt erfolgreich seinen Weltschlechtester-Witzezuhörer-Titel:
    »Nun, ich denke, er hat sich, aus welchen Gründen auch immer, dazu entschlossen, auf eine von beiderseitigem Respekt geprägte erotische Erfahrung zu verzichten, und betrachtet Sex als eine Art
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