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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss
Autoren: Moritz Netenjakob
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türkischer UPS – Mitarbeiter in der typischen braunen Uniform das Reisebüro betritt, nickt Kenan ihm kurz zu und verschwindet im Hinterzimmer.
    Seychellen oder Malediven – was für eine absurde Frage! Sein oder Nichtsein, da kann man schon mal eine Weile drüber nachdenken. Aber wenn Hamlet die Frage »Seychellen oder Malediven« innerlich zerrissen hätte – ich weiß nicht, ob Sir Alec Guinness, Gustaf Gründgens oder Kenneth Branagh die Rolle dann gespielt hätten.
    Während der UPS – Mitarbeiter vergeblich versucht, Blickkontakt mit meiner Verlobten herzustellen, kommt Ünül-Tours - Kenan mit einem originalverpackten Kühlschrank aus dem Hinterzimmer zurück.
    »Den hab ich heute Morgen an Erol verkauft. Du kommst doch sicher auf deiner Route an seinem Café vorbei?!«
    »Klar, kein Problem.«
    »Und wegen Geld …«
    »… gibst du mir für den nächsten Antalya-Flug Rabatt.«
    »Perfekt.«
    Der UPS – Mitarbeiter verschwindet. Ich bin verblüfft:
    »Du verkaufst Kühlschränke?«
    »Klar. Braucht ihr auch einen?«
    »Nein, ich dachte nur, das ist ein Reisebüro.«
    Gut, vor drei Monaten war es noch ein Klamottenladen, und ich habe bei Kenan ein türkisches Disco-Outfit gekauft – also warum wundere ich mich?
    »Klar ist das ein Reisebüro. Aber wenn ihr Küchengeräte braucht oder Flat-Screens oder Computer, müsst ihr nie zu Saturn – kriegt ihr alles hier.«
    »Gut zu wissen. Aber …«
    »Ab nächste Woche mache ich auch Sportwetten. Nur, damit ihr Bescheid wisst.«
    »Super. Ich freue mich. Aber jetzt wollen wir erst mal die Frage klären, wohin unsere Hochzeitsreise geht.«
    Ich schaue Aylin fragend an. Sie schaut fragend zurück. Ich weiß, sie wird keine Entscheidung treffen. Und noch besser weiß ich, dass ich keine Entscheidung treffen werde. Elektrogeräte-Sportwetten-und-Ünül-Tours-Kenan schaut mich jetzt schon ein wenig spöttisch an. Aber das ist mir egal. Ich bin nämlich hier der moralisch Überlegene: kein Macho, sondern ein verlässlicher Partner in einer Beziehung auf Augenhöhe. Ein Mann, der seine Frau ernst nimmt und nicht über sie bestimmt. Und ich weiß: Das ist genau das, was Aylin sich immer gewünscht hat.
    »Daniel?«
    »Ja, Aylin?«
    »Triff einfach die Entscheidung. Du bist der Boss.«

[Menü]
2
    Noch 6 Wochen, 2 Tage, 1 Stunde, 16 Minuten
bis zur Hochzeit.
    Vor etwa fünf Sekunden hat meine Verlobte gesagt: »Du bist der Boss.« Seitdem ist unheimlich viel passiert. Nicht auf der physischen Ebene – ich sitze immer noch auf demselben Stuhl im selben Reisebüro, neben mir sitzt immer noch Aylin, und Ünül-Tours-Kenans Blick stellt weiterhin meine Heterosexualität infrage.
    Aber mein Gehirn hat in diesen fünf Sekunden einen Weltrekord im Möglichst-viel-wirres-Zeug-auf-einmal-Denken aufgestellt. Hier die fünf wichtigsten Gedanken:
Wie kann man in einer gleichberechtigten Partnerschaft der Boss sein?
Wie kann man in einer gleichberechtigten Partnerschaft der Boss sein?
Wie kann man in einer gleichberechtigten Partnerschaft der Boss sein?
Wie kann man in einer gleichberechtigten Partnerschaft der Boss sein?
Warum darf ein Mann mit Glitzerhemd und orientalischem Muster im Dreitagebart mich mit einem »Bist-du-sicher-dass-du-nicht-schwul-bist«-Blick angucken?
    Plötzlich keimt Hoffnung in mir auf. Vielleicht hat Aylin nur einen Scherz gemacht? Ich lache vorsichtig, um diese Möglichkeit abzuklären. Aber ihr Gesichtsausdruck zeigt: Sie meint es vollkommen ernst. Ich suche schnell nach einem Ausweg aus dem Dilemma:
    »Okay, heute bin ich der Boss. Aber wir wechseln uns ab: Morgen bist du der Boss, übermorgen wieder ich. Oder wochenweise.«
    Jetzt lacht Aylin, weil sie denkt, ich hätte Spaß gemacht. So schnell kann das gehen. Vor inzwischen zwanzig Sekunden war ich ein gleichberechtigter Partner, plötzlich bin ich der Boss. Ich hatte in meinem bisherigen Leben zwar wenig Zeit, Führungsqualitäten zu entwickeln – die einzige Entscheidungsfreiheit in meiner letzten Beziehung lag in der Frage, ob ich das Geschirr vor dem Spülen einweichen soll oder nicht –, dafür bin ich ein absoluter Experte im Verantwortung-schnell-wieder-Loswerden. Im Bruchteil einer Sekunde ziehe ich eine Ein-Euro-Münze aus meinem Portemonnaie:
    »Pass auf, Aylin: Zahl ist Malediven. Kopf ist Seychellen. Okay?«
    »Okay.«
    Ich werfe die Münze und kann dabei Kenans Gedanken lesen: Einer Frau die Entscheidung zu überlassen, ist schwul; einer Münze die Entscheidung zu
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