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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss
Autoren: Moritz Netenjakob
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Ware.«
    »Falsch. Er besucht seine Schwester, hahaha …«
    »Ach, er hat eine Schwester? Das hatten Sie vorher gar nicht erwähnt.«
    Während mein Vater nun Herrn Denizo ğ lu darüber aufklärt, was die Weltliteratur an Familientragödien im Rotlichtmilieu anzubieten hat, kommt Frau Denizo ğ lu mit einem großen, in silbernes Papier verpackten Karton zu mir, auf dem eine gigantische goldene Schleife prangt.
    »Hier, Daniel, ist Geschenk für dich von Familie Denizo ğ lu.«
    Augenblicklich verstummen alle Gespräche, und meine Eltern schauen sich irritiert an, weil Frau Denizo ğ lu eigenmächtig mit der Bescherung angefangen hat. Obwohl doch die Biermann-Platte das Signal für die Bescherung ist. Meine Eltern reden kurz miteinander, dann hastet mein Vater zum Plattenschrank und wühlt so aufgeregt darin, dass eine Live-Aufnahme von Jacques Brel zu Boden fällt. Mein Vater will sie noch in der Luft auffangen und reißt mit einer hektischen Bewegung die kleine Giacometti-Plastik aus dem Regal – das teuerste Stück in der Sammlung meiner Eltern. Mit einer Blitz-Reaktion bringt er seinen Fuß so unter die drei Kilo schwere, massive Eisenskulptur, dass er den Aufprall abfedern kann – auf Kosten der eigenen Unversehrtheit. (Auch wenn mein Vater für diese Entscheidungnicht den Bruchteil einer Sekunde, sondern ein Jahr Zeit gehabt hätte – er hätte sich immer für die Skulptur und gegen seinen Fuß entschieden.)
    Mein Vater verzieht kurz vor Schmerz das Gesicht und tut dann so, als sei nichts gewesen. Er hebt die Plastik auf, seufzt erleichtert, dass sie unversehrt ist, und humpelt dann, sich zu einem Lächeln zwingend, aus dem Zimmer, gefolgt von meiner Mutter.
    Aus dem Flur höre ich meinen Vater fluchen. Um der Betroffenheit im Wohnzimmer entgegenzuwirken, öffne ich das Paket der Denizo ğ lus und finde einen schwarzen Glanzanzug. Ich bin verblüfft. Bevor ich weiß, was ich davon halten soll, preist Frau Denizo ğ lu ihn an:
    »Ist Anzug für Hochzeit, vallaha, sieht unheimlich elegant aus, ist vallaha eleganteste Anzug, den ich je gesehen habe. Und ist wunderbare Stoff, ganz elegant, hat Onkel Murat extra mitgebracht aus Istanbul, ist vallaha so elegant wie eleganter geht nix mehr so elegant, vallaha!«
    Ich habe das Gefühl, neben mir zu stehen. Wie in Trance küsse ich alle Denizo ğ lus zum Dank auf die Wangen. Aylin flüstert mir ins Ohr:
    »Ich weiß, er ist ziemlich drüber – ich konnte Mama nicht stoppen. Aber glaub mir, er wird gut zu meinem Kleid passen.«
    Aylin grinst mich schelmisch an. Dann redet sie wieder laut:
    »Und – gefällt er dir?«
    »Ja. Er ist unheimlich …«
    Plötzlich scheint die deutsche Sprache nur noch ein Adjektiv zu besitzen.
    »… elegant.«
    Frau Denizo ğ lus Stimme überschlägt sich:
    »Vallaha, ich bin so froh, dass dir auch gefällt, Daniel, ist vallaha unheimlich elegant. Sehr, sehr elegant, vallaha. Und du machst mich glücklichste Mensch, wenn du jetzt anziehst.«
    Ich spüre einen gewissen emotionalen Druck, wenn das Lebensglück meiner Schwiegermutter davon abhängen soll, dass ich diesen Anzug anprobiere. Trotzdem nehme ich den Haufen glänzenden Stoff und gehe ins Badezimmer, um mich umzuziehen. Dort legt meine Mutter meinem Vater gerade einen Fußverband an und schaut besorgt:
    »Wenn es heute Nacht anschwillt, fahren wir ins Krankenhaus.«
    Mein Vater beschwichtigt:
    »Aber davon lassen wir uns nicht den Abend vermiesen. Es ist schließlich nur ein Fuß.«
    Mein Vater betrachtet seinen Körper stets als notwendiges Übel, das den einzigen Zweck hat, seinen Geist durch die Gegend zu tragen. Da das Badezimmer besetzt ist, gehe ich ins Schlafzimmer meiner Eltern.
    Als ich gerade den letzten Knopf der Weste schließe, höre ich von draußen den tödlichen Satz meiner Mutter:
    »Kommen Sie, Herr und Frau Denizo ğ lu, ich zeige Ihnen, wo ich Ihren Harlekin aufbewahre.«
    Adrenalin schießt durch meinen Körper. Ich starre wie versteinert auf Erikas Akt mit Adonis-Statue. Er hängt an der vor Bildern überquellenden Wand direkt unterhalb eines gerahmten Geschmieres, das ich mit fünf Jahren angefertigt habe. (Mir war ein Glas Möhrensaft auf den Malblock gekippt, aber mein Vater hält es noch heute für ein Meisterwerk der Aquarellkunst.)
    Die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale meiner Mutter befinden sich glücklicherweise in einer Höhe, die ich mit meinem Körper verdecken kann. Ich mache mich so breit, wie das mit einem schmalen Körper
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