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Der Blumenkrieg

Der Blumenkrieg

Titel: Der Blumenkrieg
Autoren: Tad Williams
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und ihn so dazu zwangen, sie mit sorgfältig gepolsterten Anzügen zu verbergen. Außer den Insassen gab es das zahlreiche Personal der Köchinnen, Dienstmädchen, Hausmeister und Gärtner und natürlich die Krankenschwestern und Pfleger. Zwei Psychiater und ein Chirurg hatten rund um die Uhr Dienst, und andere Ärzte hielten sich auf Abruf bereit, falls Not am Mann war, was bei Vollmond des öfteren vorkam.
    In solch einer großen Anstalt mit einer imposanten Liste von Patienten, deren Zustände extrem, mitunter sogar gefährlich waren – Schattenverkehrung, manische Urschöpfung, ansteckende Halluzinationen und etliche Varianten unkontrollierbaren Formenwandels –, verwunderte es, daß die prominenteste Insassin so still und unauffällig war. Dank ihrer berühmten und mächtigen Familie (die abgesehen von gelegentlichen Besuchen eines Bruders nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte) hatte sie eine eigene Zimmerflucht auf der Südseite des Hauses, doch sie schenkte ihrer Umgebung so wenig Beachtung, daß sie genausogut in einem Straßengraben hätte leben können. Tag für Tag ergoß sich die Morgensonne in ihr Zimmer, doch sie hob nie die Augen zu den Fenstern auf. Tag für Tag kamen Betreuer und holten sie aus dem Bett, in das sie sie am Abend zuvor gelegt hatten, wuschen sie und zogen sie an und hantierten dabei mit ihrem willenlosen Körper herum, als ob sie eine Leiche wäre, die zur Bestattung hergerichtet wurde. Tag für Tag, wenigstens bei schönem Wetter, setzten sie sie in eine Rollsänfte – keine leichte Aufgabe selbst für einige der größeren, stärkeren Pflegekräfte, denn bei all ihrer Schlankheit war die Patientin doch hochgewachsen und langgliedrig und stets schlaff wie ein Sack – und schoben sie in den Garten der Villa hinaus.
    Dort blieb sie dann, die Augen starr ins Leere gerichtet, die von den Betreuern gefalteten Hände unbewegt im Schoß liegend, das edle, feinknochige Gesicht hohl und leblos wie eine Glocke ohne Klöppel, bis jemand kam und sie wieder wegbrachte.
    Bei einem der Störfälle, die derzeit in der Stadt und den Randgebieten mit besorgniserregender Häufigkeit auftraten, war es einmal vorgekommen, daß man in der allgemeinen Konfusion vergessen hatte, sie hereinzuholen. Als die Nachtschwester das leere Bett sah, hatte sie sich auf die Suche nach ihr gemacht und sie draußen im Garten gefunden, wo sie immer noch mit leerem Blick in ihrer Sänfte saß, das Kleid vom Tau durchnäßt und die milchweiße Haut eiskalt.
    Herr Lungenkraut war darüber höchst aufgebracht gewesen, weniger aus Mitleid – mit seinem etwas beschränkten Horizont tat sich der Direktor schwer, jemanden zu bemitleiden, der nicht mehr Lebendigkeit an den Tag legte als ein Klumpen Wachs –, sondern weil er befürchtete, ihre wohlhabende Familie könnte von dem Mißgeschick erfahren, und die Villa Zinnia müßte fürderhin auf sie und vor allem auf die stattlichen Unterhaltszahlungen verzichten. Zwei Schwestern wurden entlassen, und ein Pfleger, der Nachtdienst gehabt hatte, erhielt einen strengen Verweis, doch die Patientin selbst ließ keinerlei Anzeichen erkennen, daß die Nacht im Freien ihr irgendwie geschadet hatte.
    Lungenkrauts Patientenakten war zu entnehmen, daß sie mit Vornamen Erephine hieß, doch er schätzte keine Vertraulichkeiten zwischen seinen Angestellten und ihren Pflegebefohlenen – den »Gästen«, wie Lungenkraut sie nannte – und schon gar nicht gegenüber Angehörigen der höchsten Adelsgeschlechter, auch wenn der Umgang des Personals mit ihnen noch so intim war und der Patient in einem noch so erbärmlichen Zustand. Wenn sie ihr in das ausdruckslose Gesicht schauten, ein Gesicht, das von Leben erfüllt wohl schön gewesen wäre, redeten die Pflegekräfte sie nur mit »Jungfer Primel« an oder schlicht mit »Jungfer«. Der Klang ihrer Stimmen und die Berührung ihrer sorgenden Hände schienen ihr nicht mehr zu bedeuten als seinerzeit der nächtliche Tau. Wenn sie ein Mensch gewesen wäre und ihre Wärter desgleichen, wäre vielleicht hinter vorgehaltener Hand das Wort »seelenlos« gefallen, aber Elfen erheben nicht den Anspruch, eine Seele zu haben, und sollte dem doch so sein, sind sie sich dessen nicht bewußt.
    Für die Schwestern und Pfleger der Villa Zinnia, von denen viele ganz offen Flügel trugen und hartnäckig an den alten Sagen und Sitten festhielten, war ausgemacht, daß sich um ihre regungslose und sprachlose Patientin, so schön und doch wie tot, eine Geschichte
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