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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod
Autoren: Boris Meyn
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Seuchenprävention unaufgeklärte Ärzteschaft in der Stadt.
    Auch wenn im Jahre 1892 mehr als 400   Kilometer Wasserleitungen in Hamburg verlegt worden waren und inzwischen fast jedes Haus über einen eigenen Wasseranschluss verfügte, war die Qualität des Wassers katastrophal. Im Gegensatz zu Altona, wo man bereits 1859 eine Sandfilteranlage zur Reinigung des Elbwassers erbaut hatte, gab es in Hamburg nur gewöhnliche Klärbecken. Eine modernere Anlage befand sich zwar im Bau, aber die Fertigstellung dieser Einrichtung verzögerte sich ständig. Vor allem aus Kostengründen, denn einerseits sah man ihre Notwendigkeit im Vergleich zum Hafenausbau als zweitrangig an, und andererseits versprach eine solche Investition keinen Profit abzuwerfen.
    Auch Robert Koch (1843   –   1910) war es 1884 nur mit Mühe gelungen, eine Reinkultur der Choleravibrionen zu erzeugen und damit den Nachweis zu erbringen, dass es sich beim Erreger der Cholera asiatica um einen Bazillus handelte. Unter den Teilnehmern der in den Folgejahren von Koch abgehaltenen Einführungskurse zurDiagnose der Cholera befand sich nicht ein in Hamburg ansässiger Arzt. Hier hielt man Kochs Theorie schlichtweg für Unfug und glaubte weiterhin an die von Max von Pettenkofer (1818   –   1901) vertretene Miasmalehre, der zufolge Cholera durch unhygienische Verhältnisse in Form belebter Sumpfluft entstand (Malaria animata).
    Einzig Dr.   Theodor Rumpf (1851   –   1923), seit Anfang des Jahres 1892   Leiter des Neuen Allgemeinen Krankenhauses Eppendorf, galt als überzeugter Anhänger Kochs. Der zuständige Medizinalrat der Stadt, Johann Caspar Theodor Kraus, der mit der Oberaufsicht über die öffentliche Gesundheit und die Ärzteschaft betraut war, bat Rumpf jedoch schon bei dessen Einstellung, aus vereinzelten Fällen von Darmerkrankungen mit verdächtigen Symptomen nur keine echte Cholera zu melden oder gar eine Epidemie zu diagnostizieren.
    Dr.   Carl August Theodor Rumpel (1862   –   1923), Assistent von Rumpf und späterer Leiter des Krankenhauses Barmbek, der im weiteren Verlauf der Choleraepidemie für die Aufnahme und Versorgung der Kranken zuständige Arzt in Eppendorf, war zwar bemüht, einen wissenschaftlichen Nachweis zu erbringen, aber sein Versuch, die bei der Autopsie der ersten Todesfälle am 17.   August gefundenen Mikroorganismen in Kultur zu nehmen, misslang vorerst.
    Bis zum 20.   August häuften sich die Verdachtsmomente nicht nur in den Mitteilungen privater Ärzte, sondern auch bei den Einlieferungen im städtischen Krankenhaus St.   Georg (Dr.   Rieder) und im Marienkrankenhaus (Dr.   Kümmell). Aber selbst als der in Altona ansässige Stabsarzt Dr.   Weisser, der zudem über Erfahrungen mit der bakteriellen Untersuchung der Cholera verfügte, dem Hamburger Medizinalrat Verdacht und Diagnosemitteilte, gab Kraus die ihm vorliegenden Informationen nicht an seinen Dienstherrn, Senator Gerhard Hachmann (1838   –   1904), seit 1886   Polizeiherr und Präses des Medizinal-Kollegiums, weiter.
    Am 22.   August gelang schließlich Dr.   Eugen Fraenkel (1873   –   1925), Arzt am Eppendorfer Krankenhaus, die Isolierung der Bakterienkultur und damit der wissenschaftliche Nachweis der Cholera. Anders als zu erwarten, informierte Kraus Senator Hachmann jedoch nur über einen Verdacht, nicht aber über den isolierten Erreger. Noch am selben Tag versicherte Senator Hachmann dem überaus besorgten amerikanischen Vizekonsul, Charles Burke, in Hamburg gebe es keine Cholera. Mit von Burke ausgestellten Unbedenklichkeitsbescheinigungen liefen Auswandererschiffe der Hapag mit Cholerainfizierten an Bord noch bis zum 26.   August in Richtung New York aus.
    Als am 23.   August die Epidemie endlich dem kaiserlichen Gesundheitsamt in Berlin gemeldet wurde, war es bereits zu spät. Trotz aller ergriffenen Maßnahmen fielen bis Ende Oktober mehr als 10   000   Menschen der Seuche zum Opfer. Die Zustände, die während dieser Zeit in der Stadt geherrscht haben müssen, sind aus heutigem Blickwinkel völlig unvorstellbar. Robert Kochs Worte, nachdem er die Gängeviertel der Stadt während der Epidemie besichtigt hatte, geben uns zumindest eine vage Vorstellung: «Meine Herren, ich vergesse, dass ich in Europa bin!»
     
    Das in diesem Roman angestellte Gedankenspiel, ein krimineller Hintergrund sei verantwortlich für die Verschleppungsstrategie des Senats, würde einige Ungereimtheiten erklären. Die um eine Woche
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