Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod
Autoren: Boris Meyn
Vom Netzwerk:
suchend auf den Boden. Im ersten Moment glaubte Sören, seinen Augen nicht zu trauen, aber der Mann, der noch bis eben von Menschen umringt gewesen war und nun, eine Pistole in der Hand, fast allein auf dem Parkett stand, war Gunnar Smitten. Was um alles in der Welt hatte der Reeder hier zu suchen, und warum war er bewaffnet? Noch bevor Sören sich diese Fragen beantworten konnte, hob Smitten den rechten Arm und zielte in Richtung Bühne. «Ihr verdammten Trottel!», rief er. Dann krachte ein Schuss.
    Alles im Saal geriet in Bewegung, sodass man nicht erkennen konnte, ob und wen Smitten getroffen hatte. Altena Weissgerber war auf die Bühne geeilt. Nun strömten mehrere uniformierte Polizisten in den Saal, und einige Gäste versuchten panisch, sich an ihnen vorbeizudrängen.
    «Festnehmen!», befahl Hartmann und zeigte auf Smitten, der seine Waffe daraufhin auf Leutnant Ockelmann richtete. Sören zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann zog er den Revolver aus dem Rock. Er hatte noch nie auf einen Menschen geschossen, aber der Ausdruck in Gunnar Smittens Augen sagte ihm, dass es in diesem Moment unvermeidlich war. Der Polizei-Leutnant hatte noch gar nicht registriert, dass eine Waffe auf ihn gerichtet war. Sören spannte den Hahn und zielte, aber der Schuss, der fiel, stammte nicht aus seiner Waffe. Kommissar Muschek war ihm zuvorgekommen. Gunnar Smitten sackte zu Boden. Die Anwesenden schrien auf. Ein Blutfleck breitete sich auf Smittens weißem Hemdaus. Für einen Moment schien es, als zeichne sich ein Grinsen auf seinen Lippen ab. Dann lief ein rotes Rinnsal aus seinem Mundwinkel, und sein Kopf klappte zur Seite.
     
    «Und der Kaiser?», fragte Sören, nachdem er Martin erzählt hatte, was drinnen vorgefallen war.
    Martin setzte sich auf die Stufen des Eingangs und zündete sich eine Zigarette an. «Kommt nicht mehr», erklärte er und nahm einen tiefen Zug. «Wir haben seine Kutsche vorne an der Kreuzung gestoppt.»
    «Was habt ihr ihm gesagt?»
    «Ich habe ihm erzählt, wir hätten die Cholera in der Stadt, und es wäre besser, wenn er Hamburg so schnell wie möglich verließe.»

Anträge 
    Zwei Wochen später
     
    W ie geht es David?», fragte Sören, wie er es jeden Abend tat, wenn er aus der Kanzlei nach Hause kam.
    «Besser», antwortete Mathilda und gab ihm einen Begrüßungskuss. «Er hat heute beinahe den ganzen Tag über geschlafen, aber die Schmerzen sind fast fort.»
    «Sehr gut», antwortete Sören und hängte den Rock an die Garderobe.
    «Hannes Zinken war heute hier.»
    «Wirklich?», fragte Sören erstaunt.
    «Ja. Für eine kurze Visite, so hat er sich ausgedrückt. Er war richtig fein herausgeputzt. David war gar nicht begeistert, weil er natürlich glaubt, dass er demnächst zurück zu ihm ins Viertel muss.»
    «Und?»
    «Hannes Zinken meinte zu mir, er habe sich die Sache durch den Kopf gehen lassen. Er findet deinen Vorschlag, dass David erst einmal hier bleiben kann, wenn er will, sehr gut. Wir müssten ihn dann aber auch zur Schule schicken.»
    Sören lächelte. «Der alte Schlawiner. Dachte ich mir doch, dass er einverstanden ist. Hat er noch etwas zu dem Toten am Hafen gesagt?»
    «Nein, kein Wort. Was gibt es bei dir Neues?»
    «Sie haben die Bartels gefasst. Hartmann hat mich heute Vormittag verständigt. Sie schweigt beharrlich zu allen Vorwürfen, genau wie dieser Ratte. Aber das wird sich ändern, wenn man erst mal Anklage gegen sie erhoben hat. Sonst dreht sich natürlich alles um dieCholera. Seit die Stadt unter Quarantäne steht, ist nicht nur der Handel zum Stillstand gekommen. Auch in der Kanzlei war es sehr ruhig heute. Man hat übrigens alle öffentlichen Einrichtungen vorübergehend geschlossen. In vielen Schulen werden Notlazarette eingerichtet, und es soll auch bis auf weiteres keine Konzerte mehr im Stadttheater geben. Du wirst also fürs Erste nicht vermisst.» Sören strich ihr liebevoll durchs Haar. «Du solltest, wenn es sich vermeiden lässt, das Haus sowieso nicht verlassen. Das Desinfektionsprogramm, das man auf Anraten Robert Kochs beschlossen hat, läuft jetzt langsam an. Die ganze Stadt stinkt nach Chlorkalk. Desinfektionskolonnen, wohin man schaut. In den Gängevierteln ist alles voller Ratten, alle aus den Häusern und Kellern geflüchtet. Unglaublich, wie viele es sind. Dafür sieht man kaum Menschen. Viele Straßen wirken fast verlassen. Niemand traut sich hinaus. Nur vor den Apotheken stehen lange Schlangen.»
    «Was ist mit Marten Steen? Hast du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher