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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
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…«
    »Was? Dass du gerne einen Tag im Bett verbringen würdest?«
    »Nein! Sie sind ungerecht! Ich hab mich wirklich krank gefühlt. Und da hab ich halt gedacht …« Ihre Stimme klang nun belegt, und die grauen Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hab gedacht«, wiederholte sie mit zitternder Stimme, »dass wenn’s mir doch so schlecht geht – dass ich dann vielleicht ein bisschen nach Hause gehen könnt’. Nur so lange, bis es mir wieder besser geht.«
    Sie wandte das Gesicht ab und blinzelte. Die Tränen traten ihr aus den Augen und liefen in zwei Rinnsalen über die Kleinmädchenwangen. Ich sagte: »Darum geht es also? Du möchtest nach Hause? Ist das der Grund?«, woraufhin sie die Hände vors Gesicht schlug und richtig losweinte.
    Als Arzt sieht man häufig Tränenausbrüche, manche sind ergreifender als andere. Zu Hause wartete wirklich ein Berg von Arbeit auf mich, und ich war ganz und gar nicht begeistert, dass man mich ohne gewichtigen Grund von dort weggeholt hatte. Doch das Mädchen wirkte so jung und Mitleid erregend, dass ich wartete, bis sie sich ausgeweint hatte. Dann legte ich ihr die Hand auf die Schulter und sagte mit fester Stimme: »So, nun ist es aber genug. Jetzt erzähl mir, was wirklich los ist. Gefällt es dir hier nicht?«
    Sie beförderte ein schlaffes Taschentuch unter ihrem Kopfkissen hervor und schnäuzte sich.
    »Nein, es gefällt mir nicht.«
    »Warum nicht? Ist die Arbeit zu schwer?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Die Arbeit is ganz in Ordnung.«
    »Aber du musst doch sicherlich nicht alles allein machen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Da is noch Mrs. Bazeley. Die kommt jeden Tag bis drei Uhr; jeden Tag außer Sonntag. Sie macht die Wäsche und kocht, und ich mach den Rest. Dann kommt ab und zu noch ein Mann für den Garten. Miss Caroline macht auch was …«
    »Das klingt doch gar nicht so schlimm.«
    Sie antwortete nicht. Deshalb drang ich weiter in sie: Vermisste sie ihre Eltern? – Bei dieser Frage verzog sie das Gesicht. Gab es vielleicht einen Freund, den sie vermisste? Da verzog sie das Gesicht noch mehr.
    Ich nahm meine Tasche. »Also, wenn du mir nichts erzählen willst, dann kann ich dir auch nicht helfen.«
    Als sie merkte, dass ich gehen wollte, sagte sie endlich etwas. »Es is bloß dieses Haus!«
    »Dieses Haus? Was ist denn damit?«
    »Ach, Herr Doktor. Es is gar nich wie in ’nem normalen Haus. Es is viel zu groß. Man muss kilometerweit laufen, um irgendwohin zu kommen, und es is so still hier, dass man das Gruseln kriegt. Tagsüber, wenn ich arbeite und wenn Mrs. Bazeley hier is, dann geht’s ja noch. Aber nachts bin ich ganz allein hier unten. Kein einziges Geräusch um mich rum! Ich krieg furchtbare Alpträume … Und das wär ja alles nich so schlimm, aber ich soll immer diese alte Hintertreppe nehmen, wenn ich rauf- und runtergehe. Da gibt’s so viele dunkle Ecken, und man weiß nie, was dahinter ist. Manchmal glaub ich, dass ich eines Tages noch vor Angst sterben werd!«
    Ich sagte: »Vor Angst sterben? In diesem herrlichen Haus? Du kannst dich glücklich schätzen, dass du hier wohnen darfst! Sieh es doch mal so!«
    »Glücklich schätzen?«, wiederholte sie ungläubig. »Alle meine Freundinnen meinen, dass es bescheuert von mir war, in Stellung zu gehen. Zu Hause lachen sie mich aus deswegen! Ich seh nie jemanden, treff nie jemanden! Ausgehen kann ich auch nich. Meine Cousinen, die haben alle eine Arbeit in der Fabrik. Und ich hätt auch dort arbeiten können, bloß mein Vater wollt mich nich lassen. Er will das nich. Er meint immer, dass die Mädchen aus den Fabriken zu übermütig werden. Er sagt, dass ich erst mal ’n Jahr hier arbeiten soll – und Hauswirtschaft lernen und wie man sich gut benimmt! Ein Jahr! Da bin ich doch längst vor Angst gestorben, das weiß ich genau! Entweder vor Angst oder vor Scham! Sie sollten mal sehen, was ich hier anziehen muss – so ’n scheußliches altmodisches Kleid mit ’ner Haube! Ach, Herr Doktor, das is so ungerecht!«
    Sie hatte ihr Taschentuch zu einem nassen Ball geformt und warf ihn zu Boden, während sie sprach.
    Ich bückte mich und hob ihn wieder auf. »Meine Güte, was für ein Aufstand … Ein Jahr geht ganz schnell vorüber, du wirst sehen. Wenn du älter bist, wirst du darüber lachen!«
    »Aber jetzt bin ich nich alt!«
    »Wie alt bist du denn?«
    »Vierzehn. Aber ich könnt genauso gut neunzig sein, so öd is es hier!«
    Ich lachte. »Sei nicht albern. Also, was sollen wir jetzt machen?
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