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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
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ihr das Frühstück ans Bett bringen«, fuhr Caroline fort, »und sie auch sonst den ganzen Tag über verwöhnen. Ein Glück, dass ich mich in der Küche so gut auskenne! Da fällt mir ein …« Erst jetzt blickte sie mir wieder richtig ins Gesicht. »Gehen Sie noch nicht, Herr Doktor. Zumindest nicht, wenn Sie nicht unbedingt müssen. Bleiben Sie doch noch zum Tee!«
    »Ja, tun Sie das!«, meinte auch Roderick.
    Er klang genauso desinteressiert wie vorher, doch Carolines Einladung schien ehrlich gemeint. Vermutlich wollte sie unsere Unstimmigkeit wegen Betty wiedergutmachen. Da mir ebenfalls an einer versöhnlichen Geste gelegen war – hauptsächlich aber, wie ich zugeben muss, um mehr vom Haus zu sehen –, willigte ich ein. Sie traten beiseite und ließen mich vorangehen. Ich stieg die letzten paar Stufen hinauf, trat in eine kleine, nichtssagende Diele und sah denselben, mit einem grünen Vorhang verhängten Bogen, zu dem mich das nette Zimmermädchen im Jahre 1919 geführt hatte. Roderick folgte langsam die Stufen hinauf, seine Schwester hatte sich immer noch bei ihm eingehakt, doch am Ende der Treppe ließ sie ihn los und zog beiläufig den Vorhang zurück.
    Die dahinterliegenden Flure waren schlecht beleuchtet und kamen mir ungewöhnlich kahl vor, doch davon abgesehen war alles genauso, wie ich es in Erinnerung hatte: Das Haus schien sich zu öffnen wie ein Fächer, die Decke wurde höher, statt Steinplatten lag nun Marmor auf dem Boden, und die kahlen glänzenden Wände des Dienstbotentrakts wichen Seidentapeten und Stuckverzierungen. Ich hielt sofort Ausschau nach der Schmuckleiste, von der ich damals die Eichel abgestemmt hatte. Doch als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich mit Bestürzung, dass seit meinem letzten Besuch hier genauso gut eine ganze Horde zerstörerischer Schüler hätte am Werk gewesen sein können, denn inzwischen waren ganze Stuckbrocken abgefallen, und das, was von der Leiste noch übrig war, war verfärbt und hatte Risse. Der Rest der Wand sah nicht viel besser aus. Zwar hingen noch einige hübsche Bilder und Spiegel dort, doch zahlreiche dunklere Quadrate und Rechtecke zeigten an, wo offenbar früher einmal Gemälde gehangen hatten. Eine Bahn der Seidenbespannung war eingerissen, und irgendjemand hatte die Stelle zusammengezogen und gestopft wie einen Socken.
    Ich wandte mich zu Caroline und Roderick um, in der Erwartung, dass sie verlegen wären oder sich gar irgendwie entschuldigen würden, doch sie führten mich an der beschädigten Stelle vorbei, als kümmere es sie gar nicht. Wir hatten den rechten, vollständig innenliegenden Gang genommen. Er wurde nur von dem Licht erhellt, das aus den Zimmern fiel, die auf seiner einen Seite lagen, doch da die meisten Türen geschlossen waren, lag der Korridor selbst an einem so schönen Sommertag wie diesem großteils im Dunkeln. Der schwarze Labrador ging in der Dunkelheit fast unter und wurde nur in den gelegentlichen Lichtstreifen kurz sichtbar. Der Korridor machte eine weitere Neunzig-Grad-Biegung – diesmal nach links –, und nun stand endlich eine Tür richtig offen und ließ einen Keil aus Sonnenlicht in den Gang. Die Tür führte in das Zimmer, in dem, wie Caroline mir erzählte, die Familie einen Großteil des Tages verbrachte und das schon seit ewigen Zeiten »der kleine Salon« genannt wurde.
    Der Ausdruck »klein« war auf Hundreds Hall natürlich relativ zu sehen. Das Zimmer war knapp zehn Meter lang und etwa sechs Meter tief und ziemlich überladen ausgestattet; zahlreiche Stuckdetails zierten Decke und Wände, und ein stattlicher Marmorkamin beherrschte den Raum. Genau wie im Korridor waren jedoch viele der Stuckverzierungen beschädigt, gesprungen oder fehlten ganz. Die aufgewölbten, knarrenden Bodendielen waren mit abgetretenen, teilweise übereinanderliegenden Teppichen bedeckt. Ein Sofa mit durchhängender Sitzfläche verschwand halb unter karierten Wolldecken. Dicht am Kamin standen zwei Ohrensessel aus verschlissenem Samt, neben dem einen befand sich ein viktorianischer Nachttopf mit Blumenmuster, der anscheinend dem Hund als Trinknapf diente.
    Und dennoch war der ursprüngliche Charme des Zimmers zu spüren, so wie sich eine gefällige Knochenstruktur hinter einem durch Krankheit gezeichneten Gesicht erahnen lässt. Es duftete nach Sommerblumen: nach Wicken, Reseda und Levkojen. Das weiche, gelbliche Licht schien von den blassen Wänden und der Decke umarmt und festgehalten zu
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