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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
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im Raum, das eine Spur von Leben und Aktivität zeigte, denn darauf lagen ein Häufchen lehmiges Gemüse sowie eine Schüssel mit Wasser und ein Messer – das Wasser schmutzig verfärbt und das Messer noch nass, so als habe irgendjemand vor kurzem angefangen, Gemüse zu putzen, und sei dann weggerufen worden.
    Ich trat zurück in den Korridor; dabei muss wohl mein Schuh geknarrt oder über die Kokosmatten gescharrt haben, denn wieder erklang das barsche, aufgeregte Hundegebell – diesmal beunruhigend nah –, und gleich darauf kam von irgendwoher ein älterer schwarzer Labrador in den Korridor und stürmte auf mich zu. Ich blieb reglos mit erhobener Tasche stehen, während er mich bellend umtänzelte, und gleich darauf tauchte eine junge Frau hinter ihm auf und sagte mit freundlich mahnender Stimme: »Schon gut, du dummes Vieh, das reicht jetzt! Gyp! Genug! – Entschuldigen Sie bitte, das tut mir wirklich leid.« Sie kam näher, und ich erkannte in ihr Rodericks Schwester, Caroline. »Ich kann es nicht ausstehen, wenn Hunde einen anspringen, und das weiß er auch ganz genau. Gyp! « Sie beugte sich vor, um ihm mit dem Handrücken einen Klaps auf das Hinterteil zu geben, und da hielt er Ruhe.
    »Du kleines Dummerchen«, sagte sie und zog ihn spielerisch an den Ohren. »Eigentlich ist es ja rührend von ihm. Er denkt eben, jeder Fremde, der hierher kommt, will uns die Kehle durchschneiden und sich mit dem Familiensilber aus dem Staub machen. Und wir bringen’s nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass das Silber längst versetzt ist. Ich dachte eigentlich, Dr. Graham würde kommen. Sie sind sicher Dr. Faraday. Wir sind einander noch gar nicht richtig vorgestellt worden, nicht wahr?«
    Sie lächelte, während sie sprach, und reichte mir die Hand. Ihr Händedruck war fester und aufrichtiger als der ihres Bruders.
    Ich hatte sie bisher immer nur von weitem gesehen, bei irgendwelchen offiziellen Veranstaltungen oder auf den Straßen von Warwick und Leamington. Sie war älter als Roderick, sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig, und ich hatte schon öfter gehört, wie man sie als »tüchtiges Mädel«, als »geborene alte Jungfer« oder als »gescheit« bezeichnete – mit anderen Worten, sie war bemerkenswert unattraktiv. Für eine Frau war sie sehr groß und hatte ziemlich kräftige Beine und Fesseln. Ihr Haar war von einem blassen, typisch englischen Braun und hätte, bei entsprechender Pflege, durchaus hübsch aussehen können, aber ich hatte es noch nie ordentlich frisiert gesehen, und auch jetzt fiel es ihr trocken und glanzlos über die Schulter, als habe sie es mit Kernseife gewaschen und dann vergessen, es richtig durchzukämmen. Noch dazu verfügte sie über keinerlei Geschmack in Sachen Kleidung. Sie trug jungenhaft flache Sandalen und ein schlecht sitzendes, ausgeblichenes Sommerkleid, das ihren breiten Hüften und ihrer üppigen Oberweite in keiner Weise schmeichelte. Sie hatte haselnussbraune Augen; ihr Gesicht war länglich mit kantiger Kinnpartie, das Profil eher flach und wenig ausgeprägt. Nur ihr Mund war hübsch, dachte ich, überraschend groß, wohlgeformt und lebhaft.
    Ich erklärte noch einmal, dass Graham zu einem Notfall gerufen worden sei und ich ihn daher vertreten würde. Genau wie ihr Bruder sagte sie: »Nett von Ihnen, dass Sie den ganzen Weg hier rausgekommen sind. Betty ist noch nicht lange bei uns, noch nicht mal einen Monat. Ihre Familie wohnt auf der anderen Seite von Southam, zu weit weg, als dass wir sie belästigen wollten. Außerdem ist die Mutter, nach allem was ich gehört habe, ein bisschen verlottert. Gestern Abend hat Betty sich zum ersten Mal beklagt, dass ihr der Bauch weh tut, und als es auch heute Morgen nicht besser zu sein schien, dachte ich mir, dass wir lieber auf Nummer sicher gehen sollten. Würden Sie sich das Mädchen mal ansehen? Sie liegt gleich da hinten.«
    Sie wandte sich um und schritt mit ihren muskulösen Beinen voran, der Hund und ich folgten ihr. Das Zimmer, in das sie mich führte, lag am Ende des Korridors und hatte vermutlich früher einmal der Haushälterin als Wohnstube gedient. Es war kleiner als die Küche, doch genau wie das übrige Untergeschoss hatte es einen Steinfußboden, hohe, kümmerlich schmale Fenster und den gleichen tristen, anstaltsartigen Zweckanstrich. Es gab einen schmalen, sauber gekehrten Kamin, einen ausgeblichenen Lehnstuhl, einen Tisch und ein Bett mit Metallgestell – von der Art, die man, wenn es nicht gebraucht wird,
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