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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze
Autoren: Belinda Bauer
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zu reanimieren, und auch Grey stellte seine sinnlosen Bemühungen ein, kam herüber und blieb neben Rice stehen. Singh verharrte auf den Knien in dem Matsch, zu dem der Schnee geworden war. Er zog seine Jacke aus und breitete sie behutsam über Marvels Gesicht. Dann sah er etwas aus der Innentasche von Marvels Mantel ragen und zog vorsichtig eine verbrannte Fotografie daraus hervor.
    Zwei verkohlte Jungen, bis zur Unkenntlichkeit versengt.
    »Hatte er Kinder?«, fragte er.
    »Glaub nicht«, antwortete Grey.
    »Okay«, sagte Reynolds, bevor sie alle sentimental werden konnten, »der Täter könnte in Hollys Cottage sein, gleich den Hügel runter. Wir müssen hin, alle. Und zwar sofort!«
    »Wie denn?«, fragte Pollard, dessen Gesicht so schwarz war wie das eines Kohlekumpels. »Da kommen doch nicht mal die Feuerwehr und der Krankenwagen durch.«
    »Über die Wiesen. Man kann das Cottage von hier aus sehen. Jeder holt sich einen Mantel und eine Taschenlampe.«
    Alle sahen sich an.
    »Los jetzt!«, brüllte Reynolds, und alle hasteten in ihre jeweilige Unterkunft und kamen Sekunden später wieder heraus, Singh nur im Pullover.
    »Holen Sie sich Ihre Jacke«, wies Reynolds ihn schroff an. »Sie brauchen sie dringender als er.«
    Zaghaft hob Singh seine Jacke von dem Leichnam auf und zog sie an.
    Dann führte Reynolds sein neues Team aus dem Hof heraus
und überließ DCI Marvel einem anderen, kälteren Leichentuch, das ihn aus einem pechschwarzen Himmel allmählich zudeckte.
     
    Als Lucy erwachte, hatte sie Staub auf den Lippen und einen Abdruck des Teppichs auf der Wange.
    Sie wusste, wie sich ein leeres Haus anhörte, und zwar genau so.
    Das Telefon war unten. Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie hatte, und sie konnte sich den Rückweg nicht leisten.
    Ihre erste Verteidigungslinie fiel ihr wieder ein, und sie humpelte auf den Flur und versuchte, das Bücherregal an die Treppe zu schieben. Doch mit ihren geschwächten Händen und den instabilen Handgelenken war das ein hoffnungsloses Unterfangen, das sie sehr bald aufgeben musste.
    Sie überlegte, ob sie an die Wand hämmern sollte, um Mrs. Paddon zu alarmieren, und entschied sich dagegen. Was konnte eine Neunundachtzigjährige schon ausrichten? Lucy würde sie nur in Gefahr bringen. Stattdessen ging sie ins Gästezimmer, holte die Hakenstange, öffnete die Falltür zum Boden und schaffte es schließlich  – nach mehreren Versuchen  –, den Ring an der Ziehleiter zu fassen zu bekommen und sie herunterzuziehen.
    Dann schob Lucy das Messer, das sie laut Jonas’ beharrlichem Drängen stets bei sich tragen sollte, in die Gesäßtasche, nahm die Campinglaterne vom Nachttisch und setzte einen unsicheren Fuß auf die erste Sprosse.
    Sie brauchte fast eine Viertelstunde, um die Leiter hinaufzuklettern. Ein Dutzend Mal rutschte sie ab  – schlug sich die Ellenbogen an, zerschrammte sich die Finger; einmal hätte sie sich beinahe den Unterarm aufgerissen  – und musste mehrmals nach Luft ringend Halt machen, an eine obere Sprosse geklammert, die Knie auf den unteren, damit ihre Beine etwas ausruhen konnten. Je länger sie sich abmühte, und je höher sie emporklomm, desto verzweifelter strebte sie dem Viereck aus Dunkelheit entgegen.

    Die Ironie des Ganzen entging ihr nicht. Sie hatte versucht, sich umzubringen. Würde es vielleicht wieder tun. Und hier versuchte sie jetzt, sich vor einem Mörder zu verstecken, der ihr das abnehmen würde.
    Dieser Selbsterhaltungsinstinkt war ein Schock für Lucy.
    Als sie es schließlich geschafft hatte und sich in den trockenen, kalten Bodenraum hinaufzog, der nach Holz und Federn und Mäusedreck roch, konnte Lucy sich zehn Minuten lang nicht mehr bewegen. Sie würgte vor Anstrengung und schluchzte vor Schmerzen.
    Und dann kam der Tiefschlag, als sie feststellte, dass sie die Leiter nicht hinter sich heraufziehen konnte. Sie zerrte und weinte, doch ihr Griff war schwach und ihre Arme kraftlos, und die Leiter war für so etwas ohnehin nicht gedacht. Sie konnte es nicht ändern, also bemühte sie sich, eine schwere Holzkiste über den Einstieg zu schieben, doch die blieb an einem Balken hängen, und sie hatte ihre letzten Energiereserven verbraucht. Wieder weinte sie vor hilflosem Zorn. Sie wusste genau, was sie tun sollte! Die Lucy Holly, die sie früher gewesen war, wäre gerannt, gesprungen, hätte Fallen gelegt, sich bewaffnet, wäre vorbereitet gewesen. Die Lucy Holly hätte jedem Zombie in den Hintern getreten und den Teufel
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