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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze
Autoren: Belinda Bauer
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selbst überlistet. Aber diese Lucy gab es schon lange nicht mehr. Und mit dem Körper der neuen Lucy, dem einzigen, der ihr jetzt zur Verfügung stand, konnte sie nur noch mit ihrer nicht angezündeten Lampe und ihrem Messer in eine Ecke kriechen, sich in einen stockfleckigen alten Sessel kauern und darauf warten, dass der Mörder nach Hause kam.
     
    Der Mörder kam tatsächlich nach Hause, allerdings wäre niemand darauf gekommen.
     
    Jonas war ein sportlicher Mann, doch durch den dreißig Zentimeter tiefen Schnee zu rennen war anstrengend. Seine Lunge brannte, und sein Herz drosch gegen seine Rippen wie
ein Irrer in einem Käfig. Seine Stiefel und seine Hose waren bis weit über die Knie hinauf durchnässt und schienen aus etwas zu bestehen, das am Schnee kleben blieb und jedes Mal an seinen Beinen zerrte, wenn er versuchte, sie zu heben, um einen Fuß vor den anderen zu setzen.
    Trotzdem schaffte er es über die erste Wiese; seine Augen passten sich so gut an, dass er sogar die Lücke in der Hecke sah, die ein Tor anzeigte. Er kletterte so schnell hinüber, dass seine Beine zurückblieben und er auf der anderen Seite kopfüber im Schnee landete, ehe er aufsprang und abermals losrannte.
    Ungeachtet des unebenen, rutschigen Untergrunds und des Windes, der die Flocken gegen ihn trieb, ließ die Angst ihn schneller sein, als er es jemals für möglich gehalten hätte. Sie ließ den Schneesturm verschwimmen, so dass er durch eine Schneekugel rannte, die heftig geschüttelt wurde. Er wusste nicht, wo oben und unten war, Flocken kamen aus allen Richtungen  – flogen ihm in die Augen, dann in die Ohren, klatschten ihm an den Hinterkopf wie die Kopfnuss eines Lehrers. Der einzige Anhaltspunkt war das Badezimmerlicht, das er  – glücklicherweise  – in einer anderen Zeit an einem anderen Ort, an den er sich jetzt kaum noch erinnerte, angelassen hatte. Es verschwand und tanzte und zuckte am unsteten Horizont. Wäre es nicht gewesen, so hätte er ebenso gut bis nach Withypool laufen können, so wenig Orientierungssinn war ihm geblieben.
    Hin und wieder sah er die Spuren, denen er folgte, doch sie kümmerten ihn eigentlich nicht mehr. Sein Ziel war jenes Badezimmerfenster. Es war ihm egal, wohin der Mörder wollte, solange es nicht das Rose Cottage war. Solange er nicht zu Lucy wollte.
    Nicht Lucy! Nicht Lucy! Nicht Lucy! Die Worte hämmerten den Rhythmus seines kopflosen Wettrennens über den Schnee.
    Er zog das Handy aus der Tasche und schaute auf das Display,
doch es hatte kein Netz. Große Überraschung. Er warf das Telefon von sich wie Ballast.
    Die Abdrücke im Schnee bogen sachte nach rechts ab. Das Tor der zweiten Wiese war irgendwo rechts von ihm und ging auf die Straße hinaus. Jonas konnte sich diesen Umweg nicht erlauben und rannte geradewegs den Hügel hinunter. Er würde gleich neben dem Rose Cottage über die Hecke müssen. Oder durch sie hindurch.
    So oder so, sie würde ihn nicht aufhalten.
    Die Hecke ragte vor ihm auf, riesig und schwarz mit ihrem fröhlichen Schneezuckerguss. Seiner Größe wegen hatte Jonas in der Schule Hochsprung trainiert. Sehr gut war er nicht, aber er erinnerte sich an die Grundlagen. Er wurde schneller, drehte sich im letzten Moment und schnellte seinen Körper in einem nicht ungraziösen Bogen auf die Hecke. Rasch tastete er nach irgendetwas, das ihm Halt geben könnte, packte handvollweise Zweige und Dornen und zog sich über die anderthalb Meter breite Fläche, die unter ihm nachgab und stach und knackte wie grausames Wasser, ehe er auf der anderen Seite gleich neben Lucys Käfer auf den Boden plumpste. Ein Knirschen war zu vernehmen, und er zuckte zusammen, als er auf seiner Taschenlampe landete.
    Er stand auf und ruckte vorwärts, wie um ins Haus zu stürzen, dann hielt er inne und atmete tief durch. Der Mörder könnte dort drin sein. Er konnte da nicht einfach hineinstürmen. Er musste nachdenken. Er konnte sich nicht erlauben, das hier zu versauen. Lucy brauchte ihn. Mehr als je zuvor.
    Er durfte jetzt nicht schlappmachen.
    Die Haustür war geschlossen, aber nicht abgeschlossen. Seine Schuld. Seine Schuld. Sie für andere Leute offen lassen, damit Lucy nicht aufstehen musste. Sie waren hier doch auf dem Land, das hier war sein Heimatdorf. Sie hatten sich so sicher gefühlt! Die Tür unverschlossen zu lassen war eine
gefährliche Gewohnheit und abends zur Schlafenszeit ein häufiges Versehen geworden.
    Er sog Luft in seine brennende Lunge und drückte die Tür
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