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Der Beethoven-Fluch

Der Beethoven-Fluch

Titel: Der Beethoven-Fluch
Autoren: M.j. Rose
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jemand leise Worte, als singe jemand ein Lied mit Strophen und mit Reimen, als sende der Himmel selbst eine Melodie zur Erde.
    Wie lange sie da hockte, wie viele Geschichten sich dabei vor ihrem inneren Auge abspielten, das hätte Ohana nicht sagen können. Die Musik der Urzeit sagte ihr, dass sie und ihr Geliebter bereits in vielen früheren Leben zusammengewesen waren.
    Mit warmen, feuchten Augen reichte Rasul ihr das Instrument. “Diese Flöte sei dein, solange du ihrer und ihres Erinnerungsliedes bedarfst”, sprach er. “Wenn du sie spielst, so mögest du dich entsinnen, dass ihr schon früher zusammen wart und es auch wieder sein werdet. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, es gibt nur die unendliche Leidenschaft des Lebens.”
    Ohana barg die Flöte an ihrer Brust. Zum ersten Mal seit der Feuerbestattung, seit Devadas sterbliche Überreste den Flammen übergeben worden waren, fühlte sie sich dem Liebsten nahe. Und sie fand Trost darin.

110. KAPITEL
    W ien, Österreich
    Freitag, 2. Mai – 12:25 Uhr
    Meer hatte die Hälfte der Asche aus der silbernen Urne ins Grab ihres Vaters gestreut. Sie wich vom Rand der Grube zurück. Der Rabbi gab ein Zeichen, und aus der Trauergemeinde traten zehn Männer vor – der Minjan, der rituellen Chor der Zehn. Jeremys Nachfolger war auch darunter. Um das offene Grab versammelt, stimmten sie gemeinsam den Kaddisch an, das wohl bekannteste jüdische Gebet.
    Meer spürte, wie sein wehmütiger Klang in ihrer Brust widerhallte. Ihr Herzschlag passte sich an den Rhythmus des Totengebets an. Millionenfach war es über sechstausend Jahre lang zu Ehren der Toten erklungen – eine Tradition, die den Trauernden Trost und Beistand spenden sollte, während die Seele des Verstorbenen aus dem Diesseits schied und sich anschickte, ins Jenseits überzuwechseln. Das Lied enthielt jene Lehren, für die Jeremy seine Tochter stets zu interessieren versucht hatte; Weisheiten, die ihm so viel bedeutet und an die er mit ganzer Seele geglaubt hatte. Seine Seele. War sie zersprungen in jene Millionen von Lichtfunken, von denen er ihr erzählt hatte? Wartete sie auf eine neue Wesenheit, auf ein neues Gefäß?
    “Jit’gadal w’jitkadasch, sch’me rabah …”
    Die Worte schwangen sich empor und umschmeichelten Meer wie ein lauer Wind.
    “… b’Alma di hu Atid l’it’chadata. Uleachaja Metaja, uleasaka jatehon leChajej Alma …”
    Meer kannte zwar ihre Bedeutung nicht, aber die Worte hallten tief in ihr wider – wie die Melodie der untergegangenen Erinnerungen, die Sebastian auf der Flöte gespielt hatte – nur diesmal ohne Angst und Schrecken. Es waren dieselben Schwingungen, die sie tief unten in den Katakomben empfunden hatte, als sie neben ihrem sterbenden Vater saß. Dieselben Vibrationen, die sie gefühlt hatte, als Nicolas, Sebastians Sohn, in seinem Krankenzimmer fortwährend seinen Singsang vor sich hingesummt hatte. Es war … genau dieses Gebet!
    Als der Gesang endete, dachte Meer immer noch an den Jungen. Woher kannte ein Neunjähriger den Wortlaut dieses Gebets? Hatte er wohl damals an jenem Sommertag miterlebt, wie der Gärtner den Kinderschädel ausgrub? Hatten die Seelen der beiden Kinder – eines tot, das andere am Leben – sich auf eine Weise verbunden, die Nicolas glauben machte, es sei an ihm, das schon so lange tote jüdische Kind zu betrauern? Hatte er sich in dieser Trauer verloren?
    Der Rabbi sprach einen letzten Segensspruch.
    Den Blick noch auf den Minjan gerichtet, lauschte Meer der Segnung und dachte dabei an Sebastian Ottos fruchtloses Opfer zur Rettung seines Sohnes. Das Opfer eines Vaters, der mit an Besessenheit grenzender Hingabe sein Kind erlösen und aus dem Schattenreich der lebenden Toten zurückholen wollte.

111. KAPITEL
    F reitag, 2. Mai – 13:30 Uhr
    Dr. Rebecca Kutscher, Sebastians geschiedene Ehefrau, saß an ihrem Schreibtisch, hörte sich mit gerunzelter Stirn Meers Bittgesuch an. Sie gab sich alle Mühe, nicht die neun Männer anzustarren, die ehrfurchtsvoll beim Fenster verharrten. Die Chormitglieder, alle in dunklen Anzügen und mit Kippa, blickten die Ärztin so freundlich und mitfühlend an, dass ihr ganz unbehaglich wurde.
    “Nein”, beschied sie, nachdem Meer ihren Antrag vorgebracht hatte. “Alle meine Anordnungen dienten einzig und allein dazu, den Jungen vor den Spinnereien seines Vaters zu bewahren. Warum also sollte ich Ihnen erlauben, mit neun wildfremden Menschen bei ihm anzurücken?”
    “Mir ist klar, dass sich mein
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