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Der Beethoven-Fluch

Der Beethoven-Fluch

Titel: Der Beethoven-Fluch
Autoren: M.j. Rose
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Vorschlag in Ihren Ohren sonderbar anhören muss. Mir geht es nicht anders”, sagte Meer, wobei sie hin und her überlegte, wie sie diese spröde Person überreden konnte.
    Durchs Fenster konnte man sehen, wie in der Ferne die Sonnenstrahlen auf der spiegelglatten Oberfläche des Sees funkelten.
    “Glauben Sie eigentlich an irgendetwas, Dr. Kutscher?”, fragte sie dann.
    “An die Wissenschaft.”
    “Und wie steht es mit der Grauzone, wo das empirisch Beweisbare aufhört und das Unerklärliche beginnt?”
    “Was soll das alles mit meinem Jungen zu tun haben?”
    “Kennen Sie die Forschungen auf dem Gebiet binauraler Takte?”
    Gereizt schüttelte die Ärztin den Kopf. Und Meer stellte sich langsam darauf ein, dass diese misstrauische Frau sich wohl kaum überzeugen lassen würde.
    “Es gibt Jahrtausende alte Gebete und magische Riten, die Veränderungen herbeiführen und heilsame Wirkung erzielen können, sowohl bei psychischen als auch bei körperlichen Erkrankungen. Oftmals handelt es sich dabei um bestimmte Worte mit einer eigenen Bedeutung, aber auch um Töne mit ganz bestimmten Schwingungen. In den vergangenen fünfzig Jahren wurden Studien durchgeführt, die belegen, dass einige Arten von Vibrationen das Bewusstsein beeinflussen können.” Meer spürte, wie Rebecca ihr entglitt; sie sah es an ihrem Blick. “Ich habe es selber nicht geglaubt, dann aber am eigenen Leibe erlebt … und es hat mir geholfen. Ich kann mich sehr gut in Ihren Sohn hineinversetzen. Ich bitte Sie nur um eins: Lassen Sie diese Herren zu Nicolas hinein; lassen Sie sie mit ihm gemeinsam beten.”
    Als die Männer sein Zimmer betraten, guckte der Junge nicht einmal auf. Er saß über seiner Zeichnung gebeugt, neben sich eine Schachtel mit Buntstiften. Die roten, gelben, hellblauen und grünen steckten in einer flachen Dose, alle noch angespitzt und unbenutzt. Die anderen hingegen, mit denen er malte, die dunkelgrauen, braunen und schwarzen, verteilten sich kreuz und quer über den Tisch – traurige, abgenutzte Stummel.
    Nicolas malte schon wieder eine Version des Jungen in dem dunklen Tunnel, ein ähnliches Bild wie bei Meers erstem Besuch. Sie selber hatte auch solche Phasen bewältigt, war wohlbehalten am anderen Ende angekommen. Und jetzt hätte sie Nicolas gern geholfen, es ihr nachzutun – um seinetwillen. Wenngleich sie Verständnis aufbrachte für das, was seinen Vater angetrieben hatte, wusste sie doch, dass sie ihm vermutlich niemals würde verzeihen können. Andererseits: Der Junge konnte ja nichts für das Versagen des Vaters. Versagen in der Gegenwart, Versagen aber auch in grauer Vorzeit.
    Nicolas’ unterdrückter Singsang war zwar kaum hörbar, doch die Mitglieder des Minjan erkannten ihn sofort. Sie brauchten kein Zeichen für ihren Einsatz. Gerade war noch das leise Kindersummen zu vernehmen, da fiel von einem Moment auf den anderen ein einzelner Männerbass ein, danach die übrigen, bis das Ganze einen zehnstimmigen Chor ergab: Nicolas und die neun Männer.
    Mit andächtig gebeugtem Kopf hörte Meer zu, ohne sich recht zu trauen, hinzuschauen. Nicht im Konzertsaal, als alles in Chaos versank, nicht in Beethovens Wohnung, als sie das Versteck der Flöte fand, nicht auf dem Friedhof während der Beisetzung der Asche ihres Vaters – nein, hier, jetzt , hatte sie zum ersten Mal im Leben das Gefühl, dass sie etwas Erhabenem beiwohnte, als der sonore Ruf des Gebets das Zimmer erfüllte. War das wohl der Ton, der erklang, wenn eine in unzählige Teilchen zerfallene Seele sich endlich wieder zu einem neuen Ganzen zusammenfügte?
    Sie dachte an die Liebe, wie ihr Vater sie beschrieben hatte: Liebe, die wir weitergeben, die uns am Leben hält, die uns, wenn sie entzogen wird, schwach und fehlbar macht. Liebe, die aber auch Kraft und inneren Frieden verleiht, wenn wir begreifen, dass sie uns eigentlich niemals genommen werden kann, weil Liebe ewig währt – wenn auch in unterschiedlichen Seelen.
    Am Grabe ihres Vaters, im Ohr das Totengebet, da hatte Meer an Nicolas gedacht. War er zu irgendeinem Zeitpunkt in seiner Vergangenheit einmal Vater oder Großvater oder Bruder gewesen? Hatte er in dieser Zeit seine Trauer über ein verlorenes Kind nicht abschließen können? Möglicherweise war es ihm nicht vergönnt gewesen, den Minjan zusammenzustellen und dafür zu sorgen, dass die vorgesehenen Gebete verrichtet wurden. Dann war er als Vater oder Großvater oder Bruder aus dem Leben geschieden, ohne seine Trauer vollkommen
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