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Der Beethoven-Fluch

Der Beethoven-Fluch

Titel: Der Beethoven-Fluch
Autoren: M.j. Rose
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Familie für ihre Zuneigung und Unterstützung.

1. KAPITEL
    D ie Seelen müssen wieder in das absolute Dasein eintreten, aus dem sie hervorgegangen sind. Aber um dies zu erreichen, müssen sie alle Vollkommenheiten entwickeln, die sie in Samenform bereits in sich tragen. Wenn sie diese Bedingungen während eines Lebens nicht erfüllen, müssen sie ein weiteres Leben beginnen, dann ein drittes und so weiter, bis sie den Zustand erreicht haben, in dem sie sich wieder mit Gott vereinen können.
    – Kabbala, Zohar –
    Wien, Österreich
    Donnerstag, 24. April – 17:00 Uhr
    David Yalom bewegte sich am Rande der unterirdischen Schlucht, ohne auch nur ein Mal in den schwarzen Abgrund zu schauen. Nichts an seinen bedächtigen Schritten ließ vermuten, dass er sich der Gefahr bewusst war, die bei einem Absturz drohte. Dabei hatte noch Minuten zuvor sein Führer einen Stein in den dunklen Schlund geworfen, um zu demonstrieren, wie tief es hinunterging. Das Geräusch des Aufschlages war nicht zu hören gewesen. Vier Stunden waren sie mittlerweile unterwegs: auf und ab durch ein finsteres Labyrinth aus Röhren und Kanälen, durch unterirdische Wasserläufe, über stille, mit Tropfsteinzapfen gespickte Teiche und brodelnde Seen hinweg. Nun endlich sah er das Ziel der Irrfahrt direkt rechter Hand vor sich, genau an der von Hans Wassong angegebenen Stelle: ein massiver, grob in den Fels gehauener Bogendurchgang, markiert mit einem in den Stein gemeißelten Kreuz.
    “Dann gibt es sie also tatsächlich, diese Stelle, von der Sie mir erzählt haben”, rief David lachend. Seine Stimme klang indes so bitter, als gäbe es auf dieser Welt nichts Erheiterndes mehr.
    “Ich hab Ihnen ja gleich gesagt, Sie können mir ruhig trauen.” Die beiden Männer – der israelische Journalist und der österreichische Kriminelle – verständigten sich auf Englisch, zwar mit unterschiedlichem, doch gleichermaßen ausgeprägtem Akzent. “Der ganze Bereich hier gehört zu einer größeren Planagrabung”, ergänzte Wassong.
    “Planagrabung?” Davids unbezähmbare Neugierde setzte sich durch. Wenngleich er hier nicht als Reporter vor Ort war, kam er nur schwer gegen die in langen Berufsjahren erworbene Eigenart an, sämtliche Aspekte einer Reportage zu beleuchten.
    “Bei einer Planagrabung”, erläuterte Wassong wichtigtuerisch, “werden einzelne Kulturschichten untersucht oder abgetragen. Etwa ein jüdisches Getto über einer mittelalterlichen Stadt, die wiederum auf einer antiken römischen Siedlung aufbaut. Wollte man diese Unterwelt aus Abwasserkanälen, Kellern und Katakomben kartografieren, müsste man sämtliche Straßen Wiens abtragen.”
    Die Szenerie unmittelbar vor ihnen flimmerte im Halogenlicht der Helmlampen. Alles andere ringsum versank in schattenhafter, bodenloser Finsternis; mit jedem Schritt ließ man ein Nichts hinter sich zurück. Die letzten Meter ging es steil an der gefährlichen Schlucht entlang, dann war der Zugang erreicht. Wassong marschierte einfach unter der niedrigen Wölbung hindurch; David hingegen musste sich bücken, um ihm in die Krypta zu folgen.
    Aufgescheucht von den Schritten, schoss eine Ratte mit rot aufblitzenden Augen aus einem Totenschädel heraus, huschte davon und verschwand in einem Stoß altersbleicher Gebeine.
    Von dem unheimlichen Geräusch alarmiert, zog David schnell seine Pistole, doch Wassong drückte entschieden seinen Arm herunter. “Nicht! Sonst lösen Sie noch einen Erdrutsch aus, und wir werden womöglich verschüttet. Ich möchte aber lieber dort begraben sein, wo meine trauernden Hinterbliebenen mich noch besuchen können.”
    Überall ringsum, in zu Dutzenden in das Gestein eingelassenen Nischen, ruhten völlig intakte Skelette. Ein geheimer Friedhof. David schaute sich um, bemüht, die Züge seiner Lieben nicht auf diese Gerippe zu übertragen. Vergeblich. Er betrachtete inzwischen sämtliche Tote als seine persönlichen Trauerfälle, als Opfer der Feinde seines Landes, ihrer unablässigen Bemühungen, ein ganzes Volk von der Landkarte zu tilgen. Als katastrophales Versagen der politisch Verantwortlichen, wenn es darum ging, wehrlose Unbeteiligte zu schützen.
    “Hören Sie mal! Diese Akustik!”, bemerkte Wassong. Er wies zur Decke, als würden sich die Noten gleichsam durchs Gestein zwängen. “Sagenhaft, dass der Klang bis hier herunter durchdringt, was?”
    Die schrillen Töne, die die dumpfe Luft durchdrangen, klangen für David jedoch nicht wie Geigenklänge, sondern wie
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