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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler
Autoren: Sebastian Fitzek
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eine Idee gebracht?
    Fest steht, dass ich ursprünglich für Julian einen ganz anderen Plan gehabt hatte. Doch dann kam diese Blinde daher und erzählte immerzu von einem Versteckspiel, währenddessen das Kind verschwunden wäre. Diese Geschichte hatte für mich den Hauch des Genialen. Was für eine Parallele! Was für eine Symbolik! Ich entführe ein Kind während des Versteckspielens, um das Spiel auf einer neuen, existenziellen Ebene fortzusetzen! Ein Spiel im Spiel!
    Natürlich hatte ich bis zum Schluss Skrupel, ob ich wirklich Julian als nächstes Opfer auswählen sollte. Aber dann wertete ich es als Zeichen, dass Zorbach sich ein letztes Mal seinem Sohn entziehen wollte, indem er ausgerechnet mich mit der Uhr zu ihm nach Hause schickte. Als ich vor Niccis Haus stand, kam Julian mir bereits entgegengerannt. Er kannte mich, schließlich hatte Zorbach mich schon einmal mit zum Essen mitgebracht, und somit wäre es bestimmt keine große Mühe gewesen, Julian den Floh ins Ohr zu setzen, er solle seine Mutter zu einer Runde Verstecken überreden. Aber das war gar nicht mehr nötig, denn - ich gestehe, das ist mir selbst etwas unheimlich - genau das spielten sie bereits. Ich gab ihm zwar noch den Tipp, sich im Geräteschuppen zu verstecken, wo ich ihn schließlich betäubte. Aber irgendwie werde ich den Gedanken nicht los, dass er dieses Versteck auch ohne meine Einmischung gewählt hätte. So wie Nicci von ganz allein genau die Worte sprach, die Alina ihr bereits Stunden zuvor in den Mund gelegt hatte:
    »Sorry, aber ich bin ein bisschen durcheinander. Ich spiele gerade Verstecken mit unserem Sohn. Und weißt du, was völlig verrückt ist? Ich kann ihn nirgends mehr finden.«
    War das alles wirklich ein vorherbestimmtes Schicksal, so wie Alina es gesehen hatte?
    Oder Zufall, denn was hätte eine Mutter in einer solchen Situation schon anderes sagen können? Ich weiß nicht, was ich denken soll, und eine Option erscheint mir unwahrscheinlicher als die andere. Fest steht nur, dass mich Alina mit ihrer letzten Vision auf eine gute Idee gebracht hat. Nachdem der bewährte Fahrstuhl ab sofort leider ausscheidet, war ich zuerst etwas hilflos, wohin ich Julian nun bringen sollte. Doch jetzt, nachdem meine Identität bekannt sein dürfte, erscheint mir ein bewegliches Versteck wesentlich sinnvoller. Ein Schiff, das dieses Mal nicht so schnell gefunden wird. Ich weiß, was Sie denken. Aber erinnern Sie sich an den Aufkleber auf dem Armaturenbrett im Wagen meiner Oma: Es ist einfach, die Zukunft vorherzusagen, wenn man sie gestaltet, oder etwa nicht?
    Alina konnte nie in die Vergangenheit sehen, und ich bin nicht sicher, ob sie tatsächlich in die Zukunft blickt. Aber so oder so hat sie das Drehbuch meiner zukünftigen Tat mitgestaltet, und ich muss gestehen, es bereitet mir ein großes Vergnügen, mich in weiten Teilen daran zu halten. Zufall oder Schicksal?
    Ich weiß es nicht. Nur, spiele ich mein Spiel nicht auch aus diesem Grund? Um herauszufinden, ob es den Vätern gelingt, das von mir Vorherbestimmte zu verändern?
    Wird es Zorbach noch einmal gelingen? Wird er seinen Sohn suchen und befreien, jetzt, da er über meine nächsten Schritte bereits informiert ist? Und wird es mir gelingen, von Alinas Vorhersagen abzuweichen und mein Schicksal selbst zu beeinflussen?
    Ich bin mir nicht sicher, aber ich werde es herausfinden.
    Die Zeit läuft.
    Das Spiel geht weiter.
    Viel Spaß dabei wünscht Ihnen
    Ihr
    Frank Lahmann

Prolog
Alexander Zorbach (Ich)
    Habe ich Sie nicht gewarnt? Vor den Geschichten, die sich mit rostigen Widerhaken tiefer und tiefer in das Bewusstsein dessen graben, der sie sich anhören muss. Perpetuum morbile. Geschichten, die niemals begonnen haben und auch niemals enden werden, denn sie handeln vom ewigen Sterben.
    Ich hatte Ihnen eindringlich geraten, nicht weiterzulesen. Diese Zeilen, Gott weiß, wie Sie an sie geraten sind, waren nicht für Sie bestimmt. Für niemanden. Nicht einmal für Ihren größten Feind.
    Ich sagte doch, ich spreche aus Erfahrung. J etzt wissen Sie es: Die Geschichte des Mannes, dessen Tränen wie Blutstropfen aus den Augen quellen - die Geschichte des Mannes, der das verdrehte Bündel menschlichen Fleisches an sich presst, das nur wenige Minuten zuvor noch geatmet, geliebt und gelebt hat -, diese Geschichte, die Sie gerade gelesen haben, ist kein Buch. Sie ist mein Schicksal. Mein Leben.
    Denn der Mann, der am Höhepunkt seiner Qualen erkennen musste, dass das Sterben erst
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