Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Pensionär; er war bei der I. G. Farben gewesen, im Aufsichtsrat, aber noch vor den Nazis. Er hatte eine Hausdame, und wir hatten eine Kinderschwester aus Polen, aus Stettin, also, sie war mitgegangen auf die Flucht. Und die hat uns da erzogen, meine Schwester und mich. Meine Schwester habe ich sehr geliebt. Sie war in vielem schwächer als ich; ihr einer Arm, der hatte so eine schlaffe Lähmung, sie hatte auch ein kürzeres Bein, hinkte so ein bißchen, und sie hatte epileptische Anfälle. Und in der Kindheit hieß es immer, dort in Köln, da gibt es einen Arzt, und der wird das alles reparieren können, aber dazu muß sie erwachsen sein, also so, daß der Kopf nicht mehr wächst. Dadurch war es für sie eine Kindheit ohne diagnostischen Rahmen, also, das war ein großes Geschenk!
Dabei waren ihre epileptischen Anfälle schwer und dramatisch, wir nannten sie Krampfanfälle. Nachher gings ihr immer sehr viel besser, zum Glück. Das hatte sie alle drei bis vier Monate. Meine Schwester war unglaublich witzig, sie war stark und lebenslustig, und sie war ausgesprochen komisch begabt, konnte sehr komische Geschichten erzählen, einfach so aus dem Stehgreif. Wir haben alles geteilt, das Zimmer, das Bett, wir trugen die gleichen Kleider und waren eigentlich immer zusammen. Weil sie nicht auf die höhere Schule konnte, bin ich, um bei ihr zu sein, noch längere Zeit in der Volksschule mit ihr geblieben, dann bekam sie eine Hauslehrerin. Wir haben gelebt wie eben richtige Zwillinge, richtig das Alter ego. Das war Alexa. Wir hatten eine schöne, komische Kindheit zusammen. Als sie vierzehn war, ist meine Mutter mit ihr in die neurologische Klinik gegangen, in Heidelberg, um sie untersuchen zu lassen. Und der Arzt hat dann … der Arzt hat dann gesagt, wenn sie durch die Pubertät durch ist, dann würde sie freßsüchtig werden und dick, und dann würde sie völlig verblöden, würde zurückfallen auf den Stand einer Zweijährigen. Und das Diktum, also dieses Verdikt und diese Vorhersage, das kriegst du nie wieder weg. Es war dann so, daß wenn Alexa sich beispielsweise noch mal Kartoffeln genommen hat, sich jeder dachte: Um Gottes willen, jetzt geht’s los! Jetzt wird sie freßsüchtig, jetzt verblödet sie. Ich habe damals in der Tiefe verstanden, was das bedeutet: Die Verwandlung des Liebsten in eine diagnostische Klasse, was das bewirkt. Normalerweise erscheint ja die Gewalt der professionellen Setzungen wie ein Sachzwang und ist deshalb in ihrer Gewaltförmigkeit nicht unmittelbar spürbar. Nur wenn’s jetzt zufällig das Alter ego ist, dann siehst du plötzlich, daß sie es dir selber antun. Und ich glaube, das war für mich wirklich wichtig. Meine Schwester ist mit fünfzehn Jahren verunglückt; sie war mit dem Rad unterwegs und hatte den Hund an der Leine. Sie ist gestürzt und wurde von einem Lastwagen überfahren.
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LANGER MARSCH DER SEUCHEN
MEDIZINHISTORIKERIN
Ortrun Riha, Prof. Dr. med., Dr. phil., Direktorin d. Karl-Sudhoff-Institutes f. Geschichte d. Medizin u. d. Naturwissenschaften, Medizinische Fakultät d. Universität Leipzig. 1965–69 Schillerschule in Schweinfurt, 1969–78 Celtis Gymnasium Schweinfurt. 1978–84 Studium d. Humanmedizin a. d. Bayerischen Julius-Maximilian Universität Würzburg. 1984 med. Staatsexamen, Approbation als Ärztin. 1984–89 Studium d. Germanistik u. Kunstgeschichte, Uni Würzburg. 1985 Promotion z. Dr. med. (Meister Alexanders Monatsregeln). 1989 Promotion z. Dr. phil. (Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers »Ring«), 1990 Habilitation f. d. Fach Geschichte der Medizin (Wissensorganisation in medizinischen Sammelhandschriften). 1985–92 wiss. Mitarbeiterin bzw. Privatdozentin am Inst. f. Gesch. d. Medizin, Uni Würzburg. 1992–94 Heisenberg-Stipendiatin am Inst. f. Gesch. d. Medizin d. Georg-August-Universität Göttingen. 1994–96 C3-Professorin f. Gesch. d.Medizin am Inst. f. Medizin- u. Wissenschaftsgeschichte d. Medizinischen Universität zu Lübeck. Seit 1996 C4-Professorin f. Gesch. d. Medizin, Direktorin d. Sudhoff-Institutes, Uni Leipzig. Frau Prof. Riha ist Mitglied diverser wissenschaftl. Gesellschaften u. Verbände u. Verfasserin zahlr. Schriften u. Beiträge, u. a.: »Aussatz. Geschichte und Gegenwart einer sozialen Krankheit«, Sitzungsbericht d. Sächs. Akademie d. Wissensch., math.-nat. Kl., Band 129, Heft 5, 2004; »Ethik in der Medizin. Eine Einführung«. Aachen: Shaker 1998; »Die Technisierung von Körper- und Körperfunktion in
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