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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Autoren: Gabriele Goettle
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diesen Buchladen führt.
    »Er war mal größer, es gab eine Treppe nach oben. Das war die große Zeit des Ladens – der Buchläden überhaupt. Anfang der 70er Jahre war das ja virulent. Es gab einen unglaublichen Lesehunger durch die allgemeine Politisierung, durch die Studentenbewegung, und ich gehörte natürlich mit zu den Gründern der politischen Buchhandlungen, des linken Buchhandels, der sich rasch entwickelte damals. Diese Zeit war unglaublich lebhaft und optimistisch, aber natürlich macht so ein Laden alle Brüche mit, alle langen Wellen der Konjunktur, um es mit Keynes zu formulieren. Die Brüche und Wege der 68er Linken kennen wir ja, es wurde entsprechend ruhiger, und es wurde für uns natürlich unglaublich schwierig. Von heutigen Zeiten wollen wir gar nicht sprechen. Aber damals, ’69 im Sommer, als ich hier gegründet habe, da war das unvorstellbar, daß es je wieder so einen Rückfall, so eine Lethargie geben könnte!
    Damals bin ich zurückgekommen aus Berlin, wo ich über sechs Jahre gearbeitet habe in Wolffs Bücherei, das war eine sehr wichtige Zeit. Ich erzähle vielleicht am besten etwas chronologisch. Also, ich komme ursprünglich aus einer, wie man sagt, guten Familie, gut situiert. Mein Vater war Baumwollhändler, hat eine große Firma geleitet, und eines Tages waren dann die Kunststoffe absolut auf dem Vormarsch, und da brach der eben ein, der Baumwollbereich. Solche Zäsuren gibts eben immer. Und als das alles zusammenkrachte bei uns, da dachte ich, so, jetzt muß ich auf eigenen Beinen stehen, ich kann ja nicht rumheulen, daß das Haus nun auch noch verkauft ist und alles, das hilft ja nicht. Da war ich Anfang zwanzig, hatte meine Buchhandelslehre fertig und beschloß, nach Berlin zu gehen. Ich habe mich bei Marga Schöller beworben. Die war damals die beste Adresse. Für die, die es nicht wissen: Marga Schöller ist, glaube ich, 1905 geboren und hat mit 24 ihre kleine Bücherstube am Kurfürstendamm 30 eröffnet. Sie war so gut, daß bald alle zu ihr kamen, von George Grosz über Brecht, Musil, Canetti, bis zu Kästner und Baldwin. Und sie führte während der NS-Zeit keine braune Literatur, die verfemte Literatur hat sie in ihrem Keller versteckt. Deshalb war sie auch eine der ersten, die nach ’45 wieder eine Lizenz als Buchhändlerin bekamen. Und sie hat es wieder geschafft. Die Gruppe 47 tagte bei ihr; man ging einfach zu Marga Schöller. Als ich ankam, war’s Winter. Ich hatte das Auto meines Bruders geliehen; von Halensee kommend lag der Laden auf der linken Seite, im Schaufenster hingen die ganzen Essays aus der Presse, Fotos, alles, was interessant war. Wenn man reinkam, hatte man bereits was gelesen. Die ganze Atmosphäre war zauberhaft, alle waren enorm gebildet. Leider wurde für mich nichts draus. Marga Schöller war überaus freundlich und sagte, wir sind im Prinzip dafür, aber erst in einem Jahr. Ich war sehr enttäuscht, sehr. Das merkte sie und sagte, also, es gibt da eine Buchhandlung, die schätze ich sehr, aber der Mann ist ganz schwierig, es ist schwer, mit ihm zu arbeiten. Trotz allem, er ist hervorragend! Wolffs Bücherei, Bundesallee 153.
    Ich fuhr hin mit meinem VW, ging erst mal rein, wie eine normale Kundin, und der beschriebene Herr Wolff trat auf mich zu, mit einer Zigarette in der Hand. Das hatte erst mal viel Autonomie, in anderen Buchläden durfte man nicht rauchen, da durfte man gar nichts. Ich sagte dann, weshalb ich da war, und tatsächlich war’s so, daß er grade auf eine Mitarbeiterin hatte verzichten müssen. Er war ja ein bißchen cholerisch; er litt selber drunter, aber die wenigsten können das aushalten. Vier Wochen später habe ich angefangen. Es war eine wunderbare Zeit, wir haben uns sehr befreundet. Er hatte eine großartige Frau an seiner Seite, Nadeschda. Sie waren ja beide russischer Herkunft, und man muß wissen, daß der Großvater von Andreas Wolff der berühmte Buchhändler und Verleger Maurice Wolff war, der in Moskau am Newskij Prospekt seinen Laden hatte, in dem die ganze literarische und auch künstlerische Elite Rußlands ein und aus ging. Er konvertierte übrigens irgendwann vom jüdischen zum protestantischen Glauben, was später seinen Kindern und Enkeln sehr zugute kam, als staatenlose russische Emigranten in Nazideutschland. 1883 ist er gestorben, und sein Sohn Ludwig – der Vater von Andreas – übernahm den Laden. Als die Familie dann im Zuge der Revolution enteignet wurde und nach Deutschland emigrierte, war
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